Mangelnde Sprachbeherrschung ist keine Sprachentwicklungsstörung

von Gisela Szagun

Der folgende Text wurde dem Deutschen Kinderbulletin freundlicherweise von der renommierten Sprachentwicklungsforscherin Prof. Dr. Gisela Szagun zur Verfügung gestellt. Er verdeutlicht, wie die häufigste Ursache von heute festgestellten Sprachentwicklungsauffälligkeiten bei Kleinkinder im Vorschulalter keine eigentlichen Sprachentwicklungsstörungen, sondern Ausdruck einer mangelnden Sprachbeherrschung sind. Diese wiederum ist umfeldbedingt und eine typische Form soziogener Entwicklungsauffälligkeiten, wie sie überproportional häufig bei Kinder aus Familien des unteren sozioökonomischen Gesellschaftsbereiches auftreten. Die Ursache liegt in der frühkindlichen sprachlichen Anregungsarmut der Familien und nicht etwa in der mangelhaften Intelligenz der Kinder. Für diese Kinder ist die sprachliche Förderung, aber keine medizinische Maßnahme erforderlich. 

   Im letzten Jahr hat ein Konsortium aus überwiegend Vertreterinnen der Logopädie/Sprachtherapie beschlossen: Sprachliche Auffälligkeiten ohne andere Beeinträchtigungen bei Kindern ab drei Jahren sollen mit dem Terminus „Sprachentwicklungsstörung“ (abgekürzt „SES“) bezeichnet werden. Laut Konsortium kann eine Sprachentwicklungsstörung bei dreijährigen Kindern diagnostiziert, und bereits bei Zweijährigen mit einem späten Sprachbeginn (Neudeutsch „Late Talker“) sicher prognostiziert werden. Man bezeichnet dies als einen eigenständigen Weg.

   In der Tat unterscheidet sich die Definition des Konsortiums nicht nur von der international geteilten Definition einer Sprachentwicklungsstörung, sondern sie ignoriert auch internationale Begutachtungen – inklusive die des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) für Deutsch. Hier wird wiederholt festgestellt: Die Früherkennung einer Sprachentwicklungsstörung ist nicht mit ausreichender Sicherheit möglich, und eine sichere Diagnose kann erst im Alter von fünf Jahren gestellt werden.

   Vielleicht die schwerwiegendste Folge der eigenständigen deutschen Position ist, dass auch Kinder mit mangelnder Sprachbeherrschung als „sprachentwicklungsgestört“ definiert werden. Eine Sprachentwicklungsstörung ist eine Krankheit (WHO ICD-10/11). Mangelnde Sprachbeherrschung ist jedoch keine Krankheit, sondern ihr Ursprung liegt in einer unzureichenden häuslichen Lernumwelt und sozio-ökonomischer Benachteiligung. Daher ist es völlig unangemessen, die sprachlichen Schwächen einer mangelnden Sprachbeherrschung als Krankheit einzuordnen.

   Um dies verständlicher zu machen, möchte ich die Charakteristika der beiden Sprachauffälligkeiten kurz erläutern.

   Man spricht von einer Sprachentwicklungsstörung (SES), wenn ein Kind schwerwiegende und persistierende Schwierigkeiten hat, sich sprachlich auszudrücken oder Sprache zu verstehen. Der Terminus wird ab einem Alter von fünf Jahren benutzt. SES tritt unabhängig von anderen Beeinträchtigungen auf (etwa Autismus, Hörbeeinträchtigung) und ist nicht vom elterlichen Bildungsstand abhängig. SES geht oft einher mit einer Schwäche bei der Verarbeitung auditiver Informationen, Aufmerksamkeitsschwäche, Schwierigkeiten bei der motorischen Koordination und auch mit genetischen Faktoren. Etwa 7 % aller Kinder entwickeln eine Sprachentwicklungsstörung. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen.

   Eine mangelnde Sprachbeherrschung liegt vor, wenn Wortschatz und Grammatik so mängelbehaftet sind, dass die Sprache dem Bildungssystem nicht genügt. Der Wortschatz ist stark eingeschränkt, Grammatikfehler sind häufig und persistieren, die Kinder haben Schwierigkeiten mit längeren Erzählungen. Die bei SES begleitenden Schwächen in der auditiven Informationsverarbeitung, Motorik oder auch ein genetischer Einfluss liegen nicht vor. Es ist gut belegt, dass der Ursprung einer mangelnden Sprachbeherrschung in einer anregungsarmen häuslichen Lernumwelt und sozio-ökonomischer Benachteiligung liegt. Bei Kindern mit Zweitsprache Deutsch kann mangelnder Zugang zu Deutsch hinzukommen.

   In den ersten Jahren der Sprachentwicklung ist es kaum möglich zwischen einer SES, mangelnder Sprachbeherrschung und typischer Sprachentwicklung zu unterscheiden. Das hat verschiedene Gründe. Die frühkindliche Sprachentwicklung hat eine enorme Variabilität. So können Kinder, die auf dem gleichen Sprachstand sind, einen Altersunterschied von fast einem Jahr aufweisen und liegen dennoch im Normbereich. Entwicklungsraten sind unstabil. Manche Kinder machen sprunghafte Fortschritte großen Ausmaßes, bei anderen geht es langsamer. Vorhersagbar ist das nicht. Die Grammatikfehler von Kindern mit verschiedenen Auffälligkeiten und typischer Entwicklung überschneiden sich. Erst mit Fortschreiten des Spracherwerbs und dem verlässlichen Einsatz von Tests ist es möglich, sicher zwischen SES und mangelnder Sprachbeherrschung zu unterscheiden.

   Eine SES bedarf der Sprachtherapie. Eine mangelnde Sprachbeherrschung soziogenen Ursprungs bedarf der Sprachförderung.

   Die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen sind geeignet die jeweils erforderliche Intervention einzuleiten. Im Alter von vier und fünf Jahren kann mit dem Screening HASE (Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsdiagnostik) zwischen einer SES und mangelnder Sprachentwicklung unterschieden werden. Spätestens dann sollten Kinder mit mangelnder Sprachentwicklung in einem Kindergarten Entwicklungs- und Sprachförderung erhalten.

   Nun ist eine mangelnde Sprachbeherrschung deutlich häufiger als eine SES. Sie kann 20 % oder mehr Kinder betreffen. Daher ist es ratsam, wenn Kinderärzte schon bei den ersten Sprachstandbestimmungen bei Zweijährigen zur hilfreichen Intervention verhelfen. Auch wenn keine Vorhersage über den weiteren Verlauf einer verzögerten Sprachentwicklung getroffen werden kann, so sollte diese unter Einbezug der häuslichen Lernumwelt beurteilt werden. Kinderärzte kennen den allgemeinen Entwicklungsverlauf ihrer kleinen Patienten und auch das häusliche Umfeld. Trifft es zu, dass die Kinder in einer anregungsarmen häuslichen Umwelt aufwachsen und sozio-ökonomisch benachteiligt sind, so ist der Besuch einer Krippe und eines Kindergartens dringend zu empfehlen. Damit erhöhen sich die Chancen, dass keine bleibenden sprachlichen Mängel entstehen.

   Bedauerlicher Weise ist der Ruf nach früher Sprachtherapie weit verbreitet. Und das, obwohl es an Evidenz für ihre Wirksamkeit mangelt. Die Evidenz für die Wirksamkeit von Sprachförderung dagegen ist überzeugend. Es wird Zeit, dass der eigenständige deutsche Weg „SES Diagnose bei Dreijährigen - gefolgt von Sprachtherapie“ verlassen wird. Der Weg, Kinder durch eine entwicklungsanregende Umwelt in ihrem Lebensalltag, dem Kindergarten, zu fördern, hat seine Wirksamkeit bewiesen. 

 

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