"Der Fokus auf die sozialen Unterschiede, die unterschiedlichen Startbedingungen von Kindern und Jugendlichen ist in die DNA des Instituts eingeschrieben."

Gespräch mit Frau Prof. Dr. Sabine Walper, Direktorin und Vorstandsvorsitzende des Deutschen Jugendinstitutes (DJI), München

Ende Januar 2024 führte Ulrich Fegeler vom Deutschen Kinderbulletin ein Gespräch mit Frau Prof. Dr. Sabine Walper, der Direktorin und Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Jugendinstituts in München. Angesichts der nach wie vor schlechten Entwicklungsdaten in den Einschuluntersuchungen von hauptsächlich Kindern aus Familien des unteren sozioökonomischen Schichten-Bereiches interessierten die Sichtweise des DJI, Forschungsprojekte und Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit und spezifische Wünsche des DJI an die Politik.

DKB: Frau Prof. Walper, herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben. Ich möchte Sie zunächst bitten, uns und den Lesern zu erklären: was tut eigentlich das Deutsche Jugendinstitut, wofür ist es eingerichtet worden?

W: Vielleicht ganz kurzgefasst: Das DJI beforscht die Lebenslagen, Lebensführung, Unterstützungsbedarfe und auch Unterstützungsangebote für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Familien. Auf dieser Basis beraten wir die Politik auf Bundes- und Landesebene und unterstützen die Weiterentwicklung der Fachpraxis. Wir arbeiten also an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Fachpraxis.

DKB: Vielleicht etwas zur Vorstellung des Deutschen Kinderbulletin. Das DKB besteht aus Kinder und Jugendärzten, aus Fachjournalisten und Pädagogen. Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, Kinder, die wenig Chancen auf eine gelingende Zukunft haben, in unseren Fokus zu rücken. Es sind dies überwiegend Kinder aus den bildungsfernen und ökonomisch schwachen Familien, also Familien des untersten SES[1]-Bereiches - und wenn mit Migrationshintergrund, dann ebenfalls Familien aus dieser gesellschaftlichen Sicht - , die schon frühkindlich auffällig sind in den Vorsorgeuntersuchungen, vor allem aber in den Vorschuluntersuchungen teilweise hochsignifikant herausfallen hinsichtlich der Nicht-Bewältigung der frühkindlichen Entwicklungsaufgaben wie der Sprachentwicklung, der kognitiven Fähigkeiten, der Feinmotorik und des sozialen Verhaltens. Das müsste aber nicht so sein. Denn diese Kinder werden gesund, mit ganz normalen Fähigkeiten oder zumindest den genetischen Voraussetzungen dafür geboren. Es gibt sehr viel wissenschaftliche Evidenz, dass bei diesen Kindern die nicht ausreichende Entwicklungsstimulation in der frühkindliche Entwicklungsphase eine ganz entscheidende Rolle bei dieser Defizitentwicklung spielt. Wir nennen diese Defizite soziogene Entwicklungsstörungen oder soziogene Entwicklungshemmungen. Soziogen deshalb, weil sie nicht körperlich, sondern durch ein entwicklungsarmes Lebensumfeld bedingt sind. Da dieses Fähigkeitendefizit aber von lebenslanger Nachhaltigkeit ist, haben wir es uns zum Ziel gesetzt, darauf hinzuwirken, dass mit den Kindern in der frühkindlichen Entwicklungsanregung einfach mehr passiert. Denn die Statistiken zeigen: in den letzten 20 Jahren hat sich eigentlich nichts geändert an den Zahlen, wir finden in den Schuleingangsuntersuchungen immer die gleiche Prozentzahl von entwicklungsauffälligen Kindern[2], die aller Wahrscheinlichkeit nach Probleme mit der weiteren Schulkarriere haben werden. Seit wenigstens 20 Jahren verlassen z.B. zwischen 50 und 60.000 Kinder die Hauptschulen ohne Abschluss. Und diese rekrutieren sich zu 95% aus Familien des unteren SES-Bereiches.

Ist dieses Problem beim Deutschen Jugendinstitut auf der Agenda, schlägt sich das nieder in spezifischen Vorhaben, um an diese Kinder, an diese Familien ranzukommen und hier Abhilfe zu schaffen?

W: Ja, das ist eine wirklich zentrale, sehr wichtige Forschungsfrage auch für das DJI. Ich würde mal sagen: Der Fokus auf die sozialen Unterschiede, die unterschiedlichen Startbedingungen von Kindern und Jugendlichen ist quasi in die DNA des Instituts eingeschrieben. Wir sind an vielen Stellen damit befasst, Unterschiede in den Teilhabemöglichkeiten junger Menschen und ihrer Familien zu untersuchen, vor allem in unserer großangelegten Survey-Forschung, mit der wir dokumentieren, wie es den Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Lebenslagen geht, wie sie sich entwickeln und wie es um das Wohlbefinden von Kindern, ihre subjektive Gesundheit bestellt ist. Hierbei beziehen wir uns u.a. auf Indikatoren, die auch für den pädiatrischen Bereich interessant sind, etwa frühe Regulationsprobleme in den ersten Lebensjahren, Einschränkungen der psychischen Gesundheit, aber auch der körperlichen Gesundheit. Genauso geht es um die Frage, wer denn wo Zugänge zu Unterstützungsangeboten findet. Das ist ein besonders zentrales Thema in den Frühen Hilfen, deren Begleitforschung wir gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung voran treiben, aber auch darüber hinaus in unserer Surveyforschung „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A). Eng verbunden damit ist die Frage: Wie selektiv sind diese Zugänge? Werden die Zielgruppen überhaupt erreicht, oder sind es eher die privilegierten Familien, die Unterstützungsangebote nutzen?

Ein ganz zentraler Fokus ist in unserer Forschung auf die frühe Bildung gerichtet, die Kindertagesbetreuung. Unsere Abteilung „Kinder und Kinderbetreuung“ führt dazu gemeinsam mit unserem „Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden“ mehrere groß angelegte Studien durch: beispielsweise zu Betreuungsbedarfen von Eltern, wodurch wir gut nachverfolgen können, wer sich Zugang zu kindlicher Bildung und Betreuung wünscht und wer ihn letztlich auch erhält. In dieser Studie sehen wir deutliche soziale Unterschiede, die zum Teil auch systemgemacht sind gerade da, wo Eltern oder Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind, immer noch die Vorfahrt haben gegenüber sozialen Kriterien oder stärkerem Förderbedarf der Kinder; wo auch zum Teil die zugewanderten Familien, die sich mit unserem System nicht so auskennen, größere Schwierigkeiten haben, ihre Kinder unterzubringen. Jedenfalls ist bei Ihnen die Lücke zwischen Betreuungswunsch und erhaltenem Kita-Platz größer als bei Familien ohne Migrationshintergrund. Hier scheint es also eine Zugangsschwelle zu geben, die man erst erkennt, wenn man auch weiß, ob die Eltern ihre Kinder überhaupt in die öffentliche Betreuung geben wollen. Auch da gibt es Unterschiede. Gerade in Familien mit einem geringeren formalen Bildungsniveau sind oft die Berufe der Frauen nicht besonders attraktiv, und deshalb mag die eine oder andere auch ganz dankbar sein, eine Weile zu Hause bleiben zu können mit dem Kind. Auf der anderen Seite ist dann der finanzielle Bedarf sehr hoch, so dass es für Familien mit geringem Einkommen auch wichtig sein kann, die Kinder frühzeitig in einer Kita unterzubringen. Eher skeptisch können zugewanderte Familien sein, die vielleicht ein etwas konservativeres Familienbild mitbringen und kein gutes Bild von der staatlichen Betreuung, den staatlichen Institutionen haben. Aber nicht nur solche Vorbehalte erklären die geringere Teilhabe von Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte, sondern auch andere Hürden wie die vielen unbekannten Stolpersteine beim Kampf um einen Betreuungsplatz oder die in manchen Kitas begrenzten Plätze für nicht deutschsprachige Kinder.

DKB: Wir haben es immer wieder erlebt, dass bei Kindern aus benachteiligten Familien, deren Eltern wir dringend empfohlen haben, das Kind so früh wie möglich in eine Kita-Betreuung zu geben, von den Kindergärten die Aufnahme abgelehnt wurde mit dem Argument, die – in der Regel arbeitslose - Mutter sei ja zu Hause, das Kind habe also eine Tagesbetreuung. Da besteht auf Seiten der Einrichtung der reine Betreuungsaspekt, aber nicht der frühkindliche Bildungsaspekt bzw. die Entwicklungsanregung im Vordergrund. Wird diesem Problem in Ihren Programmen Rechnung getragen? Vielleicht in diesem Zusammenhang noch ein Satz zum Konzept der „Stadtteilmütter“ in Berlin-Neukölln: das sind Mütter, die aus dem Milieu von eingewanderten Familien kommen und die in ihrer „Szene“ bleiben, um auch anderen Müttern die Dringlichkeit eines Kitabesuchs zu empfehlen. Hier spielt die außerfamiliäre Entwicklungsanregung, natürlich aber auch der Integrationsaspekt die größte Rolle.

W: Ja, den Aufklärungsbedarf sehen wir auch. Gleichzeitig sind Kita-Plätze vor allem in Westdeutschland für die ganz jungen Kinder rar, und der Fachkräftemangel erschwert den weiteren Ausbau. Deshalb, aber nicht nur deshalb, ist es auch wichtig, die Familien in der Förderung ihrer Kinder zu unterstützen. Wir haben mindestens 2 Programme: eines - was ja intensiv läuft, weiterentwickelt und weiter ausgebaut wird – sind die Frühen Hilfen. Da sind wir gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verantwortlich für die Begleitforschung

DKB: Aber die Angebote der Frühen Hilfen richten sich vornehmlich an die Eltern.

W: Ja, das stimmt. Die Angebote der Frühen Hilfen wenden sich vornehmlich an die Eltern, haben dabei aber auch den Blick auf die Kinder. Gerade die Familienhebammen und Kindergesundheitskrankenpflegekräfte, die auch zu dem medizinischen Personal in den Frühen Hilfen gehören und eher kindorientiert sind, haben natürlich schon stärker den Blick auf das, was die Kinder brauchen. Sie versuchen, Eltern für die Bedürfnisse ihrer Kinder zu sensibilisieren und sie darin anzuleiten, wie sie diesen Bedürfnissen ihrer Kindergerecht werden können. Man muss aber sagen, in diesem frühen Altersbereich ist insgesamt der Fokus tatsächlich stärker auf die Belastungen der Eltern und deren Unterstützungsbedarfe gerichtet, da sie diejenigen sind, die mit den Kindern leben, sie umsorgen und ihnen die geeigneten Entwicklungsangebote machen müssen.

Zweites Beispiel: die Elternbegleiter:innen. Sicher kennen Sie die auch in Berlin. Das ist jetzt ganz gezielt ein Programm – im Übrigen auch ein Bundesprogramm des Familienministeriums -, in dem Fachkräfte aus dem Bereich der Familienbildung mit Eltern arbeiten und sie dafür sensibilisieren, wie sie die Bildungsverläufe ihrer Kinder unterstützen können, und zwar vor allen Dingen im vorschulischen Bereich. Viele dieser Fachkräfte kommen ursprünglich aus dem Bereich der Kindertagesbetreuung. Die Elternbegleiter:innen beraten die Familien in dieser frühen Entwicklungsphase ihrer Kinder und zeigen den Eltern auf, wie sie ihre Kinder im Alltag fördern können,  z.B. wenn sie gemeinsam backen, die Eier zählen, beim Kneten motorische Fähigkeiten entwickeln und so weiter. Sie sprechen mit ihnen über Fragen der Mediennutzung und andere Erziehungsfragen und begleiten sie auch gegebenenfalls bei Elterngesprächen in der Kita.

DKB:  Meine persönliche Erfahrung ist, dass es sehr lange dauert, bis die betroffenen Eltern die notwendigen Kompetenzen entwickelt haben. Müsste man da ein solches Unterstützungskonzept wie die Frühen Hilfen nicht nur schwerpunktmäßig für die Eltern, sondern in gleicher Gewichtung auch für die Kinder ausrichten? Das heißt in der Konsequenz, dass die Kinder parallel zu den elterlichen Qualifikationsangeboten einen sehr viel leichteren Zugang für auf sie zugeschnittene Angebote der außerfamiliären Entwicklungsanregungen haben müssten. Außerfamiliär deswegen, weil die Entwicklungsanregung ja nicht ausreichend innerfamiliär erfolgt. Das setzt voraus, dass man hierfür die entsprechenden Einrichtungen, also vornehmlich U3-Kitas, mit ausreichenden Plätzen haben muss.

W: Keine Frage! Gerade Kinder aus sozial benachteiligten Familien profitieren sehr von der Kindertagesbetreuung und werden in ihren Bildungschancen gestärkt. Für Kinder aus Zuwanderungsfamilien ist das meist der entscheidende Ort, um die deutsche Sprache zu erlernen – eine zentrale Voraussetzung für den späteren Schulerfolg. Da bin ich völlig Ihrer Meinung. Aber wir müssen auch die Familien mitnehmen. Wir können die Betreuung, Bildung und Erziehung der Kinder nicht nur „outsourcen“ in die Kita, sondern müssen auch die Eltern in diesem Bereich unterstützen. Das DJI hat in der Vergangenheit ein Programm verfügbar gemacht, das sich inzwischen auch mit einer eigenen Vereinsgründung auf feste Füße gestellt hat: ursprünglich hieße es „Obstapje“, inzwischen kennt man es als „e:du – Eltern und du“. Es wurde aus den Niederlanden nach Deutschland geholt, übersetzt und angepasst. In diesem Programm gehen auch quasi „Stadtteilmütter“ in die Familien – in aller Regel eben Frauen, die aus vergleichbaren Lebenslagen, dem gleichen Sozialmilieu kommen und geschult worden sind -, die mit den Kindern im Haushalt der Familien malen, basteln, Geschichten erzählen im Beisein der Eltern, so dass man gleichzeitig den Eltern zeigt: So kannst du das auch machen. Und Material wird dagelassen, Bücher, Malblöcke, Stifte und mehr, damit die Eltern sich entsprechend mit ihren Kindern beschäftigen können. Zusätzlich gibt es Gruppenangebote, so dass die Eltern sich auch austauschen können.
Der Verein „IMPULS Deutschland Stiftung e.V.“ hat seinen Sitz in Bremen und bietet e:du über Kommunen, Landesbehörden, Freie Träger, Organisationen und Vereine an. Ich glaube, dass ganz vieles von dem, was da entwickelt worden ist - auch an Materialien -, sich jetzt in einer ganzen Reihe von Initiativen wiederfindet, Stadtteilcafés und Krabbelgruppen, die nicht mehr diesen Programmen folgen, aber die Ideen mitgenommen haben. E:du ist ja nur ein Beispiel für Angebote, die sich speziell an sozial benachteiligte Familien richten. Vor rund 12 Jahren haben wir am DJI eine Übersicht über präventive Programme für sozial benachteiligte Familien mit Kindern im Alter 0-6 Jahre veröffentlicht. Hier wäre sicher ein Update sinnvoll, auch mit Blick auf das, was in den verschiedenen offenen Angeboten wie Krabbelgruppen und Stadtteil-Cafés passiert.

DKB: Es gibt ja unendlich viele Teilinitiativen, die kurzfristig aufflammen, dann aber häufig leider auch wieder zum Erliegen kamen. Wir hatten vorgeschlagen, dass wir so etwas wie einen „Sozialraumlotsen“ - oder wie auch immer wir ihn nennen wollen – als feste kommunale Institution einrichten sollten: eine einfach adressierbare Struktur (Telefon), die zum Beispiel von Kinder- und Jugendärzt:innen - immer mit dem Einverständnis der Eltern -  angefordert werden können, die die Eltern aufsuchen und, wenn geboten, zu Angeboten der Frühen Hilfen, sozialräumlichen Fördermöglichkeiten wie z.B. zu Frühfördereinrichtungen oder Familienzentren begleiten können, also Hemmschwellen überwinden helfen. Was wir häufig auch sehen, ist ja, dass Angebote zum Beispiel von den Frühen Hilfen gar nicht erst wahrgenommen werden. Es gibt leider keine richtige Statistik darüber, wer was von solchen Angeboten wahrnimmt bzw. wie lange.

W: Doch, es gibt ausführliche Zahlen aus der Begleitforschung der Frühen Hilfen, insbesondere aus dem Survey „Kinder in Deutschland 0-3 – KiD 0-3“, der Eltern mit Kindern dieser Altersgruppe fragt, wer ein Angebot der Frühen Hilfen erhalten hat und wer es in Anspruch genommen hat. Hier sieht man, dass die Frühen Hilfen vermehrt ihre Zielgruppen der sozial benachteiligten Familien und der zugewanderten Familien erreicht. Aber man sieht auch, dass noch viel Luft nach oben ist und keineswegs alle Familien, denen ausdrücklich ein Angebot der Frühen Hilfen gemacht wurde, dies auch nutzen.

DKB: Wir brauchten also – ich wiederhole es noch einmal - eine aufsuchende Struktur, die in die Familien geht, die diese u.a. auch zu den Frühen Hilfen, in dort gemachte Angebote, aber auch zu Bewerbungsgesprächen für die Kitas begleitet. Diese Eltern haben in dieser Hinsicht fast keine Chance auf einen Platz. Meine Erfahrung ist, dass sich die Kitas die bildungsaffinen Eltern eher aussuchen.

W: Ressourcenstarke Eltern haben ja auch für die Kitas Vorteile:  Sie können problemlos alle Zusatzkosten tragen, wenn etwa für einen Ausflug Geld gebraucht wird. Ich krieg‘ das gerade mit, das ist ja zum Teil absurd, was die Kitas auch von den Eltern erwarten. Eine Bekannte von uns, die - nach Deutschland zugewandert – hier alleinerziehend Zwillinge großzieht, hat diese Zwillinge in der Kita. Da bestand klar die Erwartung, dass jetzt vor Weihnachten gespendet wird. Für alle möglichen Zwecke. Ja, und sie mit Ihren Zwillingen musste immer doppelt Geld bezahlen.

DKB: Ja, das glaube ich.
Was aber, glaube ich, Konsens ist: es ist das Wichtigste für armutsbetroffene Kinder, dass sie ausreichend in der Familie und, wenn das nicht geht, institutionell in ihrer frühkindlichen Entwicklung angeregt werden, damit sie überhaupt eine Chance für einen späteren schulischen und beruflichen Erfolg haben. Momentan gibt es für sie keine wichtigere außerfamiliäre Einrichtung als U3-Kitas oder unter Umständen auch Tagesmütter, sofern diese gut qualifiziert sind. Dies muss parallel zu den erzieherischen Qualifizierungsangeboten an die Eltern stattfinden. Das sind die beiden Wege und da meine ich, passiert in Deutschland einfach noch zu wenig. Sie sprechen ja auch in diese Richtung, trotz der Möglichkeiten, die man ja mittlerweile geschaffen hat.

W: Auf der Institutionenseite hat sich in der Tat schon viel verändert. Hinsichtlich der Qualifikation der Tagesmütter war es ja in der Vergangenheit eher so, dass man dachte, es wird schon jede, die selbst Kinder hat, die Betreuung der Tageskinder irgendwie hinkriegen. Inzwischen ist etabliert, dass auch die Tagesmütter Rüstzeug bekommen müssen für die Sprachförderung der Kinder oder für die Förderung in anderen Bereichen, von der motorischen Entwicklung bis zu den frühen numerischen Fähigkeiten. Und das neben dem Business Plan, den die Tagesmütter sich auch geben müssen. Da hat sich viel getan, vor allem mit dem Curriculum für Tageseltern, das das DJI entwickelt hat. Auch die ganze Forschung zur Sprachförderung war und ist wichtig, selbst wenn die Befunde zu den Erfolgen teilweise ernüchternd sind. Das ist z.B. auch ein steiniger Weg für unser Kitapersonal, das sich zum Teil schwertut, das umzusetzen, was es an wissenschaftlichen (frühpädagogischen) Erkenntnissen gibt.

DKB: Hängt das vielleicht damit zusammen, dass die bundesrepublikanische Ausbildung der Erzieher:innen zum größten Teil keine Hochschulausbildung ist?

W: Meine Überzeugung ist es jedenfalls, dass es Menschen mit einer Hochschulqualifikation leichter fallen würde, die Anforderungen der Programme umzusetzen, und sei es auch nur, weil sie in der Regel den (wissenschaftlichen) Hintergrund verstehen, aber auch mit Kindern anders reden. Es hat schon wahnsinnig viel mit dem Input zu tun, den die Kinder kriegen. Und das wissen wir ja auch, dass das Qualifikationsniveaus bei den Eltern eine Rolle spielt und ich würde mal vermuten, auch beim Kita Personal. Ja, aber dass dies ein großes Thema ist, dieses Bewusstsein, glaube ich, ist jetzt wirklich überall angekommen. Nur wie bekommt man das als Erzieher:in in den Alltag hinüber? Das Zauberwort ist alltagsintegriert, aber wie funktioniert das zwischen Aufräumen, Nasen putzen, Tisch decken und Gummistiefel anziehen? M.E. müssen wir in der Kindertagesbetreuung immer einen Mix machen aus einerseits alltagsintegrierten Bemühungen, mehr das eigene Handeln durch Sprache zu begleiten, den Kindern gut zu erklären, was jetzt dran ist, sich eine Antwort zu holen, andererseits aber auch mit ganz gezielter Sprachförderung, eben mit einem Curriculum.

DKB: Würden Sie auch dabei mitgehen zu sagen, wir brauchen einfach mehr Kita Plätze für diese Kinder, natürlich mit qualifizierten Erzieherinnen und Erziehern?

W: Ja, das stand schon im Vordergrund des Kinderförderungsgesetz, das 2008 in Kraft getreten ist und ein wichtiger erster Schritt zu einem bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren war. 2013 wurde der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr eingeführt. 2019 ist das Gute KiTa-Gesetzt in Kraft getreten, das seit 2023 mit dem Kita-Qualitätsgesetz fortgesetzt und weiterentwickelt wird. Es gibt also starke politische Initiativen, und das Bewusstsein für die zentrale Bedeutung früher Bildung ist heute ganz klar da, auch seitens der Wirtschaft. Aber trotzdem ist ist nicht einfach, den weiteren Ausbau voran zu treiben und die Qualitätsziele zu erreichen. Die Decke wird ja an mindestens 2 Seiten zu kurz. Also zum einen haben wir zunehmenden Fachkräftemangel, auch wenn der vielleicht in anderen sozialen Bereichen noch krasser ist als im Bereich der Kindertagesbetreuung. Aber trotzdem, auch hier merkt man, dass es inzwischen die ersten Kitas gibt, die zumachen, weil sie kein Personal mehr finden. Personalmangel bremst auch die Qualitätsentwicklung aus und erzwingt an manchen Stellen Rückschritte. Gleichzeitig steigt mit dem Ausbau auch der Bedarf an Betreuungsplätzen, weil zunehmend mehr Mütter auch in der frühen Familienphase erwerbstätig sind. Hinzu kommen Familien, die nach Deutschland zugewandert oder geflüchtet sind. Die Kommunen haben jetzt sehr gekämpft, um die Kinder gut unterzubringen, die aus der Ukraine oder anderen Ländern hierher geflüchtet sind, weil wir wissen, dass gerade bei denen die Integration in eine Gemeinschaft mit Kindern, die Deutsch mit ihnen sprechen, enorm wichtig ist, nicht nur für den Spracherwerb, sondern überhaupt für die soziale Integration. Das war und ist für viele Kommunen eine große Anstrengung. Das ist gerade angesichts des Fachkräftemangels nicht so leicht zu leisten, wie man es sich vielleicht vorstellt.

DKB: Es wird auf der Medizinseite versucht, dem Problem der soziogenen Entwicklungshemmnisse wie z.B. einer mangelhaften Sprachentwicklung mit Heilmittelverordnungen, z.B. der Logopädie, also einer „Therapie“ mit einem Medikament im weiteren Sinne, zu begegnen. Trotz der steigenden Zahlen sowohl von Ergotherapie als auch Logopädie sind die Zahlen der Schuleingangsuntersuchungen konstant gleich schlecht geblieben. Mit den Therapien finden wir also keine Verbesserung, zumindest nicht in der Breite. Deshalb sagen wir, da wäre es doch viel einfacher, das viele Geld, was für Therapien ausgegeben wird - und das ist wirklich sehr viel Geld -, in mehr Plätze der frühkindlichen Bildung zu investieren.

W: Sicher ist es besser früh zu fördern als später zur teuren Therapie greifen zu müssen. Gleichzeitig muss man vorsichtig sein bei der Einschätzung, es habe ich nichts getan. Es ist wichtig zu klären, inwieweit diese Entwicklung „es ändert sich nichts“ auch dadurch erklärbar ist, dass der Anteil sozial benachteiligter und belasteter Familien gestiegen ist. Die vielen Geflüchteten, die auch nach Deutschland gekommen sind, das waren ja schon 2015 viele mit Kleinkindern und Kindern, die dann hier geboren worden sind. Das ist jetzt bei dem Krieg in der Ukraine nicht anders, und auch jetzt kommen immer noch viele Geflüchtete aus anderen Ländern nach Deutschland. Das muss man in Rechnung stellen, bevor alle Bemühungen als „vergebens“ erklärt werden, denn es wäre ja ein Erfolg, wenn es gelingt, den Anteil von Kindern mit Förderbedarf konstant zu halten, obwohl sich die Ausgangsbedingungen verschlechtert haben. Auch die Pandemie und der in Deutschland lange Lockdown hat die Förderung der Kinder ausgebremst. Und leider waren vor allem Kinder aus Kindertageseinrichtungen mit hohem Anteil sozial benachteiligter Kinder diejenigen, die die meisten Gruppenschließungen hinnehmen mussten. Das hat unsere Corona-KiTa-Studie, die wir mit dem Robert-Koch-Institut durchgeführt haben, deutlich gezeigt.

Erst wenn man zeigen kann, dass auch bei denjenigen der Trend so ungünstig bleibt, die nicht das Handicap einer Fremdsprache haben und auch nicht das Handicap von kriegsbedingten Traumatisierungen, dann hat man ein Erklärungsproblem. Das ist der Prüfstein für die Bewertung der Bemühungen.  Dann müssen sich wirklich alle nochmal hinsetzen und überlegen, was machen wir denn eigentlich falsch.

DKB: Spannende Aussage. Nach meiner Auffassung ist es nämlich genauso, dass bei den deutschen Kindern, zumindest bei den in Berlin geborenen auch nicht besser wird. Offenbar ist auf diesem Feld nicht viel passiert. Eine mögliche Ursache scheint mir zu sein, dass wir diese Kinder nicht in die U3-Betreuung reinkriegen. Die ist die ja einzige Chance auf eine adäquate außerfamiliäre Entwicklungsstimulation. Die Eltern dieser Kinder nutzen meist nicht die Frühen Hilfen, um von dort Unterstützung zu erhalten. U.a. auch, weil die Frühen Hilfen noch zum großen Teil direkt beim Jugendamt angesiedelt sind, und das Jugendamt ist für diese Berliner Familien eine No Go Area. Das Jugendamt gilt als Kinderwegnehmer, das hat einfach diesen schlechten Ruf. Ungerechtfertigt, das weiß ich auch, aber die Eltern gehen da einfach nicht hin. Das ist m.E. ein Strickfehler in der Strukturierung, zumindest in Berlin.

W: Ja, das ist an vielen Orten so. Als so entschieden wurde, diese Koordinationsstellen am Jugendamt anzusiedeln, dachte man vor allem, dass dies der beste Ort ist, von dem aus sich die Frühen Hilfen vernetzen können mit allen anderen Leistungsbereichen, Diensten und Professionen, die für die familiäre Unterstützung notwendig sind. Was Sie sagen halte ich für einen wichtigen Hinweis, weil wir uns auch fragen, warum nur ein Teil derjenigen Eltern, denen die frühen Hilfen angeboten wurden, dieses Angebot auch nutzen - und das ist ja ein direkt an die Eltern gerichtetes Angebot, d.h. die Fachkräfte warten nicht darauf, dass sich die Eltern von selbst auf die Suche machen, sondern sie kommen auf die Eltern zu. Dann müsste man vielleicht die Anbindung hinterfragen. Allerdings kommen die Eltern bei den Frühen Hilfen selbst ohnehin nicht mit dem Jugendamt in Berührung. Die Gesundheitsfachkräfte kommen ja zu ihnen nach Hause. Und als Gesundheitsfachkräfte genießen sie großes Vertrauen. Das ist ja das Erfolgsrezept der Frühen Hilfen.

DKB: Und der Teil, der die Angebote wahrnimmt, das ist der Teil, der in der Regel besser gebildet ist. Die aufsuchende Betreuung wird von den Familien signifikant mehr in Anspruch genommen, die aus einem bildungsfernen Milieu stammen. Wohingegen all das an Angeboten, was mit Eigenaktivität, mit Initiative verbunden war, also mit dem, was Frau Renner (BZFH) „Steuerungskompetenz“ (die Inanspruchnahme Dritter, seien es Personen oder andere Hilfen oder Angebote, in der Unterstützung ihrer Kinder) nennt, das ist ganz klar bei den sozioökonomisch höheren Schichten zu erkennen, wie eine Untersuchung der Angebot-Inanspruchnahmen des Bezirks Berlin-Mitte gezeigt hat. Wir müssen bei den Familien im untersten sozioökonomischen Bereich ansetzen, damit wir den Kindern zumindest eine bessere Situation schaffen.

Frau Walper, bis hierher schon einmal ganz herzlichen Dank für dieses hoch interessante Gespräch. Haben Sie noch eine spezielle Botschaft, etwas, was Sie gerne mitteilen würden?

W: Ja, ich finde, wir müssten uns wirklich dafür einsetzen, dass sich die Bundesländer in den Einschulungsuntersuchungen möglichst auf gleiche Art und Weise vergewissern, mit welchen Eingangskompetenzen die Kinder in der Schule ankommen. Wir haben ansonsten nur länderspezifische Instrumente, nur wechselnde Indikatoren, die herangezogen werden, um zu wissen, wie gut unsere Kinder auf Schule heute vorbereitet sind. Die Zeit der Corona-Pandemie hat ja wahrscheinlich nicht nur die Schulkinder in ihrer Kompetenzentwicklung zurückgeworfen. Der in Deutschland so lange Lockdown war ja für viele Familien ein Drama. Wie sollten die Eltern die damals lange auf den häuslichen Bereich begrenzte Versorgung und die Erziehung ihrer Kinder wuppen und noch nebenbei Homeoffice machen mit Videokonferenzen und anderen Pflichten. Oder die Eltern mussten zur Arbeit, waren halt einfach nicht zu Hause und die Kinder waren zum Teil sich selbst überlassen. Haben wir diese Zeit und ihre Folgen wirklich hinter uns gelassen? Wir müssen jetzt doch wissen, wo die Kinder stehen und wie gut sie auf die Schule vorbereitet sind.  Die Corona-Pandemie wird uns vermutlich noch eine Weile nachhängen, auch in den Bildungschancen von Kindern. Insofern halte ich es jetzt auch noch gar nicht für den richtigen Zeitpunkt zu sagen, wir können uns von den Aufholmaßnahmen nach Corona verabschieden und brauchen die gar nicht mehr. Man hört immer noch die Horrorstorys von Kindern, die in die Schule kommen und noch keinen Stift festhalten können. Oder den Viertklässlern, die in die weiterführende Schule wechseln und nicht gescheit lesen und schreiben können. Also da liegt noch Vieles im Argen. Und ich finde, es muss doch möglich sein, dass die Bundesländer sich darauf verständigen, zumindest mal an dem Punkt, wenn die Kinder in die Schule kommen sollen, einen gemeinsamen Sachstand zu erarbeiten und - auch daran gemessen - Ziele für die nächsten Jahre zu formulieren. Damit man irgendein Instrument in der Hand hat, an dem man festmachen kann: Klappt es denn mit der frühen Bildung?

DKB: Leider sind die pädiatrisch berufsständischen Aktivitäten zu diesem Thema gering und so gut wie kaum hörbar, deshalb gibt es uns vom DKB, die wir versuchen, immer wieder dieses sperrige Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.

W: Und das ist gut, denn Kinder brauchen diese Lobby! Ich würde schätzen, dass im Moment die Situation doch eigentlich gut ist, um dieses Thema zu platzieren. Die PISA-Studie hat uns wieder vor Augen geführt, wie stark nach wie vor die soziale Herkunft die Kompetenzentwicklung von Kindern beeinflusst. Im Bildungsbereich bleibt also noch viel zu tun. Und auch das Auseinanderdriften von Armut und Reichtum in Deutschland muss ausgebremst werden. Das Ringen um die Kindergrundsicherung zeigt zumindest, dass es einen politischen Willen gibt, Kinder aus der Armut zu holen. Auch wenn die Kompromisslösung, die jetzt auf dem Tisch liegt, nicht ideal ist. Wir sind uns wohl alle einig, dass wir bei der Kindergrundsicherung gerne weniger Bürokratieaufwand hätten, damit mehr Geld bei den Kindern ankommt, statt in der Verwaltung der Mittel hängenzubleiben. Aber wie gesagt: Im Prinzip gibt es das Bewusstsein, dass mehr für Bedarfe der Kinder und Jugendlichen getan werden muss, dass wir uns Kinderarmut nicht leisten können, dass die Bildungschancen von Kindern gestärkt werden müssen und dass wir für gesunde Bedingungen des Aufwachsens zu sorgen haben. Die Lösungen können nur nicht bloß aus einem System kommen, weder alleine aus dem Bildungssektor noch alleine aus der Kinder- und Jugendhilfe oder alleine aus dem Gesundheitswesen. Wir brauchen eindeutig stärkere Kooperationen, verbindliche Netzwerke und immer wieder den Dialog mit den Familien, um die es geht.

DKB: Ich hab in Kürze noch ein Interview mit Frau Spieß, der Leiterin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Die hat im Bereich der Ökonomie viel geforscht im Sinne des Ökonomie-Nobelpreisträgers James Heckmann, der sagt, die - sozusagen – „gesellschaftliche Rendite“ von Menschen ist umso höher, je mehr man mit ihnen anregungspädagogisch in der frühen Kindheit tut. Ich glaube, das ist ein gutes Schlusswort mit einer wahrscheinlich von uns beiden geteilten Ansicht.

Liebe Frau Prof. Walper, herzlichen Dank für dieses Gespräch.

W: Sehr gerne

 

 


[1] SES = sozioökonomischer Status

[2] Z.B. Berlin hochgradig sprachauffällig: untere Statusgruppe 25%; mittlere Statusgruppe 13%; obere Statusgruppe 6%

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