Fragen an Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
DKB:
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie wurden im Mai 2022 zur „Nationalen Kinderchancen-Koordinatorin“ ernannt. Ziel des Nationalen Aktionsplan (NAP) "Neue Chancen für Kinder in Deutschland" ist es, bis zum Jahr 2030 benachteiligten Kindern und Jugendlichen Zugang zu hochwertiger frühkindlicher Betreuung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Ernährung und Wohnraum zu gewährleisten. Wie sieht Ihre Bilanz nach 1 ½ Jahren aus?
Ekin Deligöz:
Die Vermeidung von Kinderarmut ist eine große komplexe Herausforderung. Als Nationale Kinderchancen-Koordinatorin weiß ich, dass wir nur Fortschritte in enger Kooperation mit den anderen Bundesministerien, den Bundesländern und Kommunen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft erzielen können. Gemeinsam setzen wir uns dafür ein, von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Kindern und Jugendlichen ein sorgenfreies Aufwachsen zu ermöglichen.
Dabei stecken wir mitten im Prozess: Im Sommer dieses Jahres hat das Kabinett den Nationalen Aktionsplan "Neue Chancen für Kinder in Deutschland" mit einer Laufzeit bis zum Jahr 2030 beschlossen. Im Herbst haben wir mit der konstituierenden Sitzung des NAP-Ausschusses erstmalig alle verantwortlichen Ebenen an einen Tisch gebracht. Es erfolgt ein fortlaufender Stakeholder-Dialog. Dadurch haben wir es geschafft, die Fachöffentlichkeit und Politik noch mehr auf die Vielfalt des Themas und übergreifenden Aspekte hin zu sensibilisieren.
Der Aktionsplan bündelt bereits über 350 bestehende und geplante Maßnahmen bundesweit auf allen Ebenen. Zu den flankierenden Maßnahmen aus dem Bundesfamilienministerium zählen die Kindergrundsicherung, die Bundesstiftung Frühe Hilfen, das ESF Plus-Programm "ElternChanceN - mit Elternbegleitung Familien stärken" und der Ausbau einer hochwertigen Infrastruktur der Kinderbetreuung, um nur einige zu nennen. Wir sind auf dem richtigen Weg, wenngleich noch viel zu tun ist!
DKB:
Etwa jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Corona-Pandemie hat bestehende Ungleichheiten noch weiter vergrößert. Um die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Kinder auch in Deutschland deutlich zu verringern, müssen die Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung in den Mittelpunkt der Familienpolitik gestellt und der generationenübergreifende Kreislauf der Armut durchbrochen werden. Was sind wirksame Ansätze der Bundesregierung?
Ekin Deligöz:
Es sollte nicht sein, dass es in einem Land wie Deutschland Kinder gibt, die nicht wissen, ob sie eine warme Mahlzeit jeden Tag bekommen. Ihre Zukunft sollte nicht vom Einkommen der Eltern abhängig sein. Folgen von Armut in der Kindheit können sich auf das ganze Leben lang erstrecken.
Kinder und Jugendliche müssen daher vor Armut geschützt werden: Die Kindergrundsicherung knüpft das finanzielle Sicherheitsnetz für Kinder und ihre Familien. Neben finanziellen Leistungen braucht es eine Infrastruktur, die Eltern und Kinder beziehungsweise Jugendliche bedarfsgerecht unterstützt. Kommunen als Orte der Daseinsvorsorge spielen dabei eine zentrale Rolle, vor allem wenn es um Zugänge zu Unterstützungsangeboten und sozialen Dienstleistungen geht. Eine integrierte kommunale Armutsprävention schafft bessere Chancen beim Start ins Leben. Auch Bund und Länder können dafür wichtige Impulse setzen. Mit dem Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ führen wir alle verantwortlichen Ebenen zusammen. Mit der Vernetzung der vielfältigen Maßnahmen nutzen wir Synergieeffekte und schaffen geeignete Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche.
Zudem hören wir Kindern und Jugendlichen zu und lassen sie teilhaben. Sie sind die Expertinnen und Experten ihrer spezifischen Lebenswelt. Ihre Erfahrungen, Bedarfe und Wünsche beziehen wir in den Prozess ein. Derzeit bauen wir beispielsweise ein Team aus Kindern- und Jugendlichen auf, das uns begleiten wird.
DKB:
Im Gesundheitswesen beobachten wir seit Jahren, dass die Gesundheit von Kindern durch ungünstiges Ernährungsverhalten und unzureichende körperliche Aktivität beeinträchtigt ist und zunehmend auch Kinder und Jugendliche unter Ängsten und anderen psychischen Störungen leiden. Im 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, an dem ich als Sachverständiger mitgewirkt habe, forderte die Kommission auf S. 262 folgende fünf Maßnahmen in den nächsten 5 Jahren vordringlich zu ergreifen:
1. Frühe Förderung der Entwicklung von Kindern
2. Kontinuierliche, fachlich qualifizierte Angebote der Bewegungsförderung und kostenfreie, gesunde Verpflegung für alle Heranwachsenden in Kindertagesbetreuung und Schule…
3. Verbesserung der frühen Sprachförderung mit dem Ziel der Steigerung der Sprachkompetenzen, insbesondere von Kindern aus belasteten Lebenslagen und mit Migrationshintergrund…
4. Schulbezogene Gesundheitsförderung
5. Verminderung der psychosozialen Auffälligkeiten von Jugendlichen…
Wir alle wissen, dass diese Punkte bislang immer noch nicht wirklich umgesetzt sind. Welche Maßnahmen stehen auf der Agenda Ihres Hauses, um die Chancengleichheit zu verbessern und allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen?
Ekin Deligöz:
Wir leben in einer Ausnahmesituation wo mehrere Krisen aufeinandertreffen. Das hat auch Folgen auf die Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen heutzutage. Es braucht für die Bewältigung der psychischen und psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen bedarfsgerechte Maßnahmen. Auf Ebene von Bund, Ländern und Kommunen gibt es schon vielfältige Angebote, wo aber sicherlich noch Potenzial der Weiterentwicklung und Vernetzung besteht.
Auch das Bundesfamilienministerium flankiert mit mehreren Maßnahmen die Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen. Neben den bundesweit etablierten Frühen Hilfen möchte ich beispielhaft das Kita-Qualitätsgesetz anführen. Der Bund unterstützt die Länder in den Jahren 2023 und 2024 mit insgesamt rund vier Milliarden Euro bei Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung. Neben sprachlicher Bildung können die Länder mit diesen Mitteln auch Maßnahmen umsetzen, die sich mit ausgewogener Ernährung, Bewegungsförderung und Gesundheitsbildung in der Kindertagesbetreuung befassen.
Weiterhin fördert das Bundesfamilienministerium seit September 2023 Mental Health Coaches an Schulen. Sie schaffen geschützte Räume für das Sprechen über Sorgen und Ängste, erweitern das Wissen der Schülerinnen und Schüler über mentale Gesundheit und zeigen auf, wie man als junger Mensch bei psychischen Problemen Hilfe bekommt. Mit dem Modellprogramm erreichen wir mehrere zehntausend Schülerinnen und Schüler in ganz Deutschland.
Neben solchen Maßnahmen müssen wir insgesamt stärker dafür sorgen, dass die Interessen junger Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden und die Aufmerksamkeit für die Situation der jungen Generation steigt. Im „Bündnis für die junge Generation“ haben sich zahlreiche Persönlichkeiten aus Gesundheit, Sport, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Kultur, Stiftungen, Verbänden sowie Politik und Verwaltung zusammengeschlossen. Der Mehrwert des Netzwerkes besteht in der Möglichkeit, sich über die Grenzen von Fachszenen hinweg gemeinsam zu engagieren.
DKB:
Am 25.06.2002 gab es im Deutschen Bundestag einen Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP „Medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen sichern und verbessern“. Davon sind viele Forderungen weiterhin unzureichend umgesetzt. Sind Sie mit dem BMG in Verbindung, damit die qualifizierte medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen auf Dauer gesichert wird?
Ekin Deligöz:
Der Zugang zu sozialen und auch medizinischen Diensten ist essentiell. Daher ist – neben anderen Bundesressorts – auch das Bundesgesundheitsministeriums Teil des Nationalen Aktionsplans „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“. Auch wenn die Ressortzuständigkeit für die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen beim Bundesministerium für Gesundheit liegt, ergeben sich eine Vielzahl von Schnittstellen.
Grundsätzlich ist die Sicherung und Verbesserung der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen eine Daueraufgabe, bei der die langfristigen gesellschaftlichen Veränderungen, aber auch aktuelle globale Krisen, sei es die Corona-Pandemie, Kriege oder die Energie- und Klimakrise, mitbedacht werden müssen. Es ergeben sich neue Herausforderungen – nicht nur für die Gesundheits- und Familienpolitik.
Viele Punkte aus dem von Ihnen genannten Antrag wurden bereits umgesetzt. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz) konnte beispielsweise die Zusammenarbeit in der Prävention und Gesundheitsförderung wesentlich verbessert sowie Früherkennungsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche weiterentwickelt werden. Für die stationäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen wurde der wirtschaftliche Druck gesenkt und auch mit der anstehenden Krankenhausreform werden wir die Pädiatrie fördern.
Zentral für die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen ist zudem, den medizinischen Nachwuchs zu sichern. Dafür wurde zum einen die Förderung der ambulanten Weiterbildung verbessert. Zum anderen haben wir die Budgetierung der Vergütung für die Kinder- und Jugendärzte ausgesetzt sowie die extrabudgetäre Vergütung für bestimmte Leistungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie geregelt. Entsprechende Leistungen werden damit mit festen Preisen der Euro-Gebührenordnung vergütet – ein wichtiges Signal für die heraus-ragende Leistungen der Kinder- und Jugendmedizinerinnen und -medizinern.
DKB:
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich danke Ihnen im Namen des Deutschen Kinderbulletins (DKB) für Ihre Antworten.
Die Fragen stellte Dr. Wolfram Hartmann für das Deutschen Kinderbulletin