„Zu wenig und zu schlecht gemacht, um armen Kindern zu helfen.“ Heinz Hilgers, Kinderschützer und Ideengeber der Kindergrundsicherung übt deutliche Kritik am Gesetzentwurf der Koalition.

Interview von Regine Hauch, Deutsches Kinderbulletin, mit Heinz Hilgers

„Zu wenig und zu schlecht gemacht, um armen Kindern zu helfen!“ Heinz Hilgers, Kinderschützer und Ideengeber der Kindergrundsicherung übt deutliche Kritik am Gesetzentwurf der Koalition.

Interview von Regine Hauch, Deutsches Kinderbulletin, mit Heinz Hilgers

Die geplante Kindergrundsicherung soll Kinderarmut in Deutschland bekämpfen. Die Ampel-Koalition bezeichnet die Kindergrundsicherung gerne als ihr wichtigstes sozialpolitisches Projekt, als Meilenstein im Kampf gegen Kinderarmut. Mit ihr sollen ab 2025 Leistungen für Familien wie Kindergeld, Kinderzuschlag und Leistungen aus dem Bürgergeld für Kinder zusammengefasst werden. Ein Garantiebetrag – das bisherige Kindergeld – soll nach den Plänen für alle Familien einkommensunabhängig gezahlt werden. Obendrauf kommt dann für Familien mit wenig oder keinem Einkommen der Zusatzbetrag in der jeweils passenden Höhe.

Die Grundidee dazu wurde von Heinz Hilgers mitentwickelt. Der ehemalige Leiter des Jugendamtes Dormagen, Ehrenpräsident des Kinderschutzbundes und SPD-Mitglied wollte mit einer Kindergrundsicherung ein einfaches System etablieren, das armen Kindern und ihren Familien effizienter und besser als bisher hilft und gleichzeitig die Verwaltung der vielen bestehenden Hilfsangebote vereinfacht. Wie der Mitbegründer des „Bündnis Kindergrundsicherung“ den vorliegenden Gesetzesentwurf heute beurteilt, darüber sprach er mit dem Deutschen Kinderbulletin (DKB).

Hauch: Herr Hilgers, für die Reform sind 2,4 Milliarden Euro vorgesehen. Hört sich doch gut an, oder?

Hilgers: „Leider nein – das wird nicht reichen, um den notwendigen Systemwechsel zu schaffen und Kinderarmut wirksam zu bekämpfen. Natürlich sind 2,4 Milliarden Euro erstmal viel Geld, wenn man das mit dem eigenen Kontostand vergleicht. Wir haben aber 14 Millionen Kinder in Deutschland und wenn man das einmal herunterrechnet, sind das pro Kind im Jahr 171 € mehr. Da klingt die Zahl gleich ganz anders. Und wenn wir auf unseren Bundeshaushalt gucken, nehmen wir für viele andere Dinge deutlich mehr Geld in die Hand. Das Ehegattensplitting kostet uns beispielsweise nach aktuellen Schätzungen etwa 25 Milliarden Euro jährlich, kommt aber nicht zielgerichtet bei Kindern an, die es brauchen. Die Kinderfreibeträge kosten jährlich schätzungsweise 3-5 Mrd. Euro, dabei fördern sie nur Eltern mit wirklichen Spitzeneinkommen und kommen bei den allermeisten Kindern überhaupt nicht an. Es ist also durchaus schon Geld im System der Familienförderung, über dessen Verteilung wir besser nachdenken müssten. Aber man muss auch ehrlich sagen, im Vergleich zu anderen Haushaltsposten wird in der Familienförderung insgesamt sehr viel weniger Geld ausgegeben. Dabei lebt jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut. Das sind erschreckende Zahlen für ein so reiches Land! Da muss man sich schon fragen, was sind uns unsere Kinder wert? Für uns als Kinderschutzbund ist klar, dass es ein ganz grundsätzliches Umdenken braucht, wie wir Familienförderung passgenauer für Kinder schaffen können.“

Hauch: Aber immerhin hilft die Kindergrundsicherung doch Alleinerziehenden bei der Anrechnung von Unterhaltsleistungen und Geringverdienenden bei der Anrechnung von Erwerbseinkommen.

Hilgers: „Der Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung nimmt tatsächlich gerade Alleinerziehende und Geringverdienende in den Fokus, und wir sehen dort erste Verbesserungen. Das ist auch absolut richtig und wichtig, denn Alleinerziehende sind heute von allen Familienformen am stärksten von Armut betroffen – nämlich zu traurigen 42 %. Bei dieser Zahl merkt man direkt, dass etwas am System nicht funktioniert. Viele Alleinerziehende sind heute schon abhängig von Bürgergeld, damit es zum Leben reicht. Unterhalt und Unterhaltsvorschuss werden aber aktuell im Bürgergeld voll verrechnet, sodass dadurch kein Cent mehr auf dem Konto der Familien landet. Aktuell geplant ist, dass diese Summen nur noch anteilig, also zu 45 % verrechnet werden, wenn die Kinder unter 7 sind oder die/der Alleinerziehende über 600 € dazu verdient. Das ist ein guter Schritt, aber wir fordern, diese Anrechnung unabhängig vom Zuverdienst festzulegen. Denn oft ist ein Zuverdienst auch mit Kindern im Schulalter nicht möglich, sei es wegen jüngerer Geschwister oder fehlender Nachmittagsbetreuung, und am Ende muss es uns ja darum gehen, die Kinder auch in Trennungsfamilien gut abzusichern. Hier sehen wir noch Nachbesserungsbedarf!

Auch bei Familien mit geringem bis durchschnittlichem Einkommen reicht es heute oft nicht ohne staatliche Hilfe. Viele dieser Familien wissen heute aber nicht, dass sie eigentlich einen Anspruch zum sogenannten „Aufstocken“ mit Bürgergeld oder auf Leistungen des Kinderzuschlags hätten. Und selbst wenn sie es wissen, sind die komplizierten Anträge und das Stigma, Sozialleistungen anzunehmen, oft Hemmschwellen. Die meisten Familien wollen es selbst schaffen, koste es was es wolle. Hier hoffen wir auf Verbesserungen, wenn künftig alle Kinder ein und dieselbe Leistung von einer Stelle in jeweils passender Höhe bekommen. Das baut Hemmschwellen ab und die wichtige Unterstützung kommt an. Sorgen bereitet uns aber aktuell, ob es durch den Gesetzesentwurf für alle Familien vor allem bei der Antragsstellung wirklich leichter, wird. Hier muss der Bundestag unbedingt nachbessern, damit es eine gute Reform wird.

Neben diesen Gruppen, bei denen erste Verbesserungen in der Diskussion sind, fehlt uns im aktuellen Entwurf aber noch der Fokus auf die restlichen Kinder in Armut. Für sie würde die Reform in der aktuellen Fassung ein Nullsummenspiel bedeuten. Aber Kinder haben Armut nicht gewählt und wir sind als Gesellschaft verpflichtet, sie gut zu versorgen, ihnen echte Teilhabe zu gewähren und ihnen perspektivische Wege aus der Armut zu ermöglichen, das ist und bleibt auch mit diesem Gesetzesentwurf leider noch eine Utopie. Da müssen wir ran!“

Hauch: Wie müsste denn eine wirkliche Reform aussehen?

Hilgers: „Für eine wirkliche Reform brauchen wir eine Leistung für tatsächlich alle Kinder in angemessener Höhe, die echte Teilhabe ermöglicht. Dafür muss neu berechnet werden, was Kinder für ein gutes Aufwachsen brauchen. Eine solche Neuberechnung ist aktuell leider nicht geplant, obwohl sie im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Zudem muss die Leistung nach der Geburt möglichst automatisch bei den Familien ankommen, ohne große Antragskämpfe. Familien müssen von Anfang an eine einzige Behörde als Ansprechpartner haben, wo sie sich mit allen Problemen digital und analog hinwenden können. Um das System dann noch gerechter zu gestalten, brauchen wir zudem unbedingt ein Ende der ungleichen Förderungen von Kindern entsprechend der Einkommen der Eltern. Staatliche monetäre Kinderförderung muss dazu dienen, allen Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen und jeweils in der Höhe einspringen, die Eltern nicht selbst gestemmt bekommen.“

Hauch: Wie sähe denn eine wirksame Hilfe für Kinder und Familien aus und wo soll das Geld dafür herkommen?

Hilgers: „Um Kinderarmut dauerhaft und effizient zu bekämpfen, braucht es auf mehreren Ebenen Veränderungen. Auf Bundesebene fordern wir die beschriebene echte Kindergrundsicherung, um ausreichende Geldmittel in allen Familien sicherzustellen. Auf Landesebene brauchen wir gleichzeitig dringend Verbesserungen im Bildungsbereich. Noch nie zuvor haben die schulischen Leistungen von Kindern in Deutschland so sehr von ihrem Elternhaus abgehangen. Wir müssen Kindern über eine gute und inklusive Schul- und Bildungspolitik den perspektivischen Weg aus der Armut ermöglichen. Und drittens braucht es auf kommunaler Ebene inklusive und individuelle Unterstützung vor Ort. Dabei müssen die bestehenden Hilfen ausgebaut und verstetigt werden, und der Umgang mit allen Familien muss mehr von Wertschätzung und Hilfsbereitschaft geprägt sein. Es braucht hier gute Präventionsketten wie das Dormagener Model, bei dem das ganze Hilfesystem um das einzelne Kind herum gut und effizient zusammenarbeitet und das Kindeswohl im absoluten Fokus steht. Nur wenn wir alle diese Veränderungen gemeinsam angehen, werden wir an der verfestigten Kinderarmut in Deutschland etwas ändern können. Denn Kinder brauchen das alles: ein gutes Frühstück, eine gute Schule und gute Bezugspersonen, um den Weg aus der verfestigten Armut zu finden.“

Hauch: FDP-Vize Vogel will Paus‘ Sozialreform nur mit einem Gesamtkonzept für stärkere Arbeitsanreize im Sozialstaat beschließen. Eltern sollen also motiviert werden, sich Jobs zu suchen. Wie sehen Sie diesen Vorschlag?

Hilgers: „Dieser Vorschlag geht völlig in die falsche Richtung. Aus unserer Praxis wissen wir, dass dieser Vorschlag auf einem vollkommen falschen Menschenbild basiert. Denn was wir in unseren KiTas, Beratungsstellen und anderen Einrichtungen sehen, ist, dass die allermeisten Eltern sich das letzte Hemd vom Leibe sparen und sich auch in jede mögliche Arbeit stürzen, um ihren Kindern alles zu ermöglichen. Warum Eltern nicht oder wenig arbeiten, hat meist nichts mit dem Willen, sondern mit den äußeren Umständen zu tun. Wie sollen Eltern denn arbeiten, wenn es keine ausreichende Betreuung für die Kinder gibt? Wenn der KiTa Platz nicht da ist oder die Schule schon um 12 zu Ende ist? Oder wenn die Betreuung so teuer ist, dass für die Kosten das ganze Gehalt weg ist? Hier sollte Herr Vogel lieber seine Energie in die Verbesserung genau dieser Infrastrukturprobleme stecken, anstatt Eltern pauschal unter den Verdacht der Faulheit zu stellen.

Im jetzigen System sind viele Eltern auch erwerbstätig, obwohl sie unterm Strich keine finanziellen Vorteile haben, sie tun es einfach für ihr Selbstwertgefühl und um ihren Kindern ein Vorbild zu sein. Arbeit lohnt sich also für diese Gruppe heute oft nicht und Lohnerhöhung können durch den Leistungsdschungel sogar zu einem geringeren Kontostand führen. Hier würde unser Konzept einer echten Kindergrundsicherung helfen.

Außerdem kann es ethisch doch auch nicht sein, dass wir Kinder in Armut belassen, um ihre Eltern vermeintlich in Arbeit zu zwingen! Kinder sollten gut aufwachsen und alle Möglichkeiten zur Teilhabe und Weiterentwicklung bekommen, ganz unabhängig von ihrem Elternhaus. Das Thema Arbeitsanreize hat deswegen bei Debatten über eine Kindergrundsicherung schlichtweg nichts zu suchen!“   

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