Offener Brief: Die „Beschneidungserlaubnis“ § 1631d BGB abschaffen!

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Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
sehr geehrter Herr Minister Dr. Buschmann,
sehr geehrte Frau Ministerin Paus,
sehr geehrter Herr Minister Dr. Lauterbach,
sehr geehrte Mitglieder des Bundeskabinetts,
sehr geehrte Abgeordnete des demokratischen Spektrums im Deutschen Bundestag,

seit nunmehr zehn Jahren gilt in Deutschland mit § 1631d BGB eine Vorschrift, die einen elementaren rechtlichen Schutz männlicher Kinder beseitigt hat. Die Eltern sollen veranlassen dürfen, dass ihrem Jungen die gesunde Penisvorhaut abgeschnitten wird.

Der Deutsche Bundestag hat diese Entscheidung am 12.12.2012 gefällt, bekanntlich

  • trotz der bekannten Risiken und Komplikationen, die mit der medizinisch nicht notwendigen Amputation des sexuell sensibelsten Teils des Gliedes nachweislich verbunden sind,
  • gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung,
  • gegen die ausdrücklichen ärztlichen Empfehlungen der zuständigen medizinischen Fachgesellschaften,
  • gegen den Protest von Kinderschutz-, Frauenrechts- und Betroffenenorganisationen.

Sogar die übliche Evaluation des Gesetzes nach fünf Jahren wurde explizit abgelehnt.

Die Bilanz fällt desaströs aus:

  • Patriarchale Verletzungs- und Unterwerfungsrituale und eine empathielose Tolerierung des Rechtes des Stärkeren im Umgang mit den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft sind seitdem gesetzlich legitimiert.
  • Zum ersten Jahrestag der Entscheidung konstatierten sieben Verbände bei einer Pressekonferenz in Berlin, das Gesetz sei gescheitert: Weder sei die Betäubungsproblematik gelöst, noch die verletzten Rechte des Kindes auf körperliche, psychische und sexuelle Unversehrtheit adäquat berücksichtigt worden, schon gar nicht „vorrangig“, wie Art. 3 Abs. 1 UNKinderrechtskonvention es mit Gesetzeskraft einfordert.
  • § 1631d BGB führt zur Nichtaufnahme und Einstellung von Strafverfahren trotz dokumentierter Missachtungen gesetzlicher Vorgaben für Operationen (z.B. Nürnberg 2019) – also genau bei Fällen, die man mit Einführung der Erlaubnis verhindern wollte.
  • Wir alle wissen: Vorhautentfernungen ohne strenge medizinische Indikation verursachen unnötiges Leid! Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie stellte zudem fest: Jährlich müssen ca. 400 Jungen aufgrund von Komplikationen stationär nachbehandelt werden.
  • Es kommt vermehrt zu Schadensersatzverfahren von Betroffenen, die unter den körperlichen, psychischen und sexuellen Folgen einer frühkindlichen Vorhautabtrennung leiden.
  • Entstanden ist ein gesetzliches Chaos: Mit §§ 226a StGB, 1631d BGB und 1631e BGB gelten mittlerweile drei verschiedene Regelungen, die Kindern – je nach genitaler Ausstattung bei Geburt – völlig unterschiedliche Schutzrechte an ihren Genitalien zu- oder aberkennen. Eine weltweit einmalige Situation.
  • Bedenken Sie bitte, dass die neu geschaffene Nachbarvorschrift, der § 1631e BGB, bestimmt: „In operative Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen des nicht einwilligungsfähigen Kindes … können die Eltern nur einwilligen, wenn der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann“. Dagegen verhindert § 1631d BGB in puncto Aufschiebbarkeit des Eingriffs aktiv die Gleichstellung und vereitelt damit ausschließlich fürs Abschneiden der Penisvorhaut, dass der Betroffene selbstbestimmt entscheidet.
  • § 1631d BGB schwächt den Kampf gegen die M.dchenverstümmelung: Gesetzeskommentatoren sehen sich vom Gleichbehandlungsgebot gezwungen, § 1631d BGB in analoger Anwendung auf weniger invasive Formen von Zwangseingriffen an der Vulva zu erstrecken; Legitimationsversuche der M.dchenverstümmelung verweisen auf Deutschland, wo das Abtrennen erogener Zonen von Kindern gesetzlich erlaubt sei.
  • Die von § 1631d BGB erlaubten Penisvorhautentfernungen erschweren in erheblicher Weise eine von manchen trans* Personen später erstrebte operative Genitalangleichung – und wirken freiheitseinschränkend.
  • Renommierte Stimmen des juristischen Schrifttums stufen § 1631d BGB (in mehrfacher Hinsicht) als verfassungswidrig ein.

Aus den Reihen derer, die § 1631d BGB rechtfertigten, war 2012 häufig zu vernehmen, dass die Debatte zu diesem Thema weitergehen müsse. Leider hat es keine weitere öffentliche politische Debatte gegeben.

Fachwelt und Zivilgesellschaft hingegen haben die Arbeit dazu fortgesetzt:

  • Ärztliche Fachgesellschaften stellten 2017 und erneut 2022 in den Medizinischen Leitlinien „Phimose und Paraphimose“ den aktuellen Wissensstand zu Anatomie, elementaren sexualsensorischen Funktionen und zur Behandlung von Erkrankungen der Penisvorhaut vor. Dies verdeutlicht, wie ernsthaft sich die Medizin auch ihrer eigenen Verantwortung stellt, zu häufige und vorschnelle Operationen bei Kindern zu vermeiden.
  • Vorschläge für rechtliche Übergangsregelungen liegen seit Jahren vor, etwa von der Fachtagung „Jungenbeschneidung in Deutschland“ an der Universitätsklinik Düsseldorf 2017.
  • Der jährlich am 7. Mai begangene „Weltweite Tag der Genitalen Selbstbestimmung“ sowie die universitären Fachtage in Köln 2014, Düsseldorf 2017 und Mainz 2022 stellen Ihnen als politisch Verantwortliche eine große Zahl frei verfügbarer internationaler Zeugnisse von Betroffenen und Fachleuten in Medizin, Recht und Religion als Grundlage für Ihr Handeln zur Verfügung.
  • Immer mehr Betroffenen wird bewusst, was ihnen genommen wurde und welche physischen und psychischen Probleme dadurch entstanden sind. Sie melden sich in zahlreichen Formaten und sind auch in Medien zu hören. Jüngst haben ARTE und ARD eindrückliche Dokumentationen hierzu ausgestrahlt.

Die Zivilgesellschaft hat also vorgelegt und dabei gezeigt, dass eine angemessen sachliche Behandlung des Themas im Sinne des Kinderschutzes möglich ist.

Nun ist es an Ihnen, sehr geehrte Abgeordnete,

nehmen Sie bitte die Faktenlage zur Kenntnis und beenden Sie diese ethisch, medizinisch, verfassungsrechtlich und vor allem aus Sicht der leidvoll Betroffenen unerträgliche Situation:

  • Schaffen Sie § 1631d BGB ab! Kehren wir in Deutschland zurück zum uneingeschränkten und in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und eine gewaltfreie Erziehung – und zwar unabhängig vom Geschlecht.
  • Initiativen zur Abschaffung geschlechtsspezifischer Diskriminierungen, zu Selbstbestimmung und zum Recht über den eigenen Körper werden auf politischer Ebene permanent diskutiert – auch in der aktuellen Bundesregierung. Diese wichtigen Initiativen dürfen aber nicht weiterhin die Jungen insoweit schutzlos lassen, als das Abschneiden ihrer erogensten Zonen erlaubt bleibt.
  • Wie bereits 2012 von vielen Organisationen vorgeschlagen wurde, brauchen wir einen „Runden Tisch“, um mögliche Wege zur konkreten Umsetzung des Kinderschutzes und der empathischen Achtung der Intimsphäre auch von Jungen gemeinsam zu erarbeiten.
  • Staatlich geförderte Aufklärung wie in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung muss endlich nach aktuellem Wissensstand erfolgen.
  • Wir brauchen geförderte Forschung zum Thema „Genitale Selbstbestimmung“ für alle Kinder.

Dafür tragen Sie auf gesetzgeberischer Ebene Verantwortung.

Vor uns liegt ein anspruchsvoller, aber lohnender Prozess, an dem alle gesellschaftlich relevanten Kräfte mit ihren jeweiligen Kompetenzen zu beteiligen sind.

Ziel kann nur sein: Gleicher Schutz ausnahmslos aller Kinder in ihren Rechten auf Genitale Selbstbestimmung und auf eine offene Zukunft.

Das Deutsche Kinderbulletin zählt mit zu den Erstunterzeichnern.

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