Erschreckende Leseschwäche

von Wolfram Hartmann

Nach Schulschließungen und Homeschooling können Kinder in der vierten Klasse wesentlich schlechter lesen als vor der Pandemie, so das Ergebnis einer Studie zur Lesekompetenz. Es brauche ein krisenfesteres System, mahnt Studienleiterin Nele McElvany.

Dass die Corona-Pandemie die Jüngsten in unserer Gesellschaft mit am härtesten im alltäglichen Leben getroffen hat, ist nicht nur Eltern von Schulkindern längst klar und die Verbände der Kinder- und Jugendärztinnen/-ärzte haben zusammen mit anderen für das Kindeswohl und die Verwirklichung der Kinderrechte eintretenden Verbände wiederholt darauf hingewiesen.

Im internationalen Vergleich haben Kinder aus prekären und anregungsarmen Familien große Nachteile in Deutschland. Genauso wie Kinder mit Migrationshintergrund. Wir als DKB greifen diese Thematik seit Jahren auf, sehen aber keine wirklichen Fortschritte auch unter der neuen Bundesregierung, in deren Koalitionsvertrag steht: "Wir wollen gemeinsam darauf hinwirken, dass jedes Kind die gleiche Chance auf Entwicklung und Verwirklichung hat".

Studienkonzept

Wie sich Maßnahmen wie Schulschließungen, Distanzunterricht, Wechselunterricht und Homeschooling konkret ausgewirkt haben, zeigt eine vergleichende Studie zur Lesekompetenz von Viertklässlern: Im Sommer 2021 hätten die Viertklässlerinnen und Viertklässler im Test im Mittel deutlich schwächere Lesekompetenzen gehabt als Kinder der gleichen Grundschulen in der Zeit vor Corona, fasst Nele McElvany (Studienleiterin des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund) das Ergebnis zusammen. (Link: https://ifs.ep.tu-dortmund.de/details/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-26250/)

Alle Schülergruppen betroffen

Überrascht sei sie davon, wie stark der Abfall in der Lesekompetenz ist. „Die 20 Punkte, die wir hier als mittleren Abfall für alle Schülerinnen und Schüler haben, entsprechen in etwa einem halben Lernjahr. Das ist bezogen auf diese Zeit von etwas über einem Jahr coronabeschränkter Beschulung sehr, sehr massiv.“

Unerwartet sei auch, dass alle untersuchten Schülergruppen betroffen seien, erklärt McElvany. „Wir haben nicht nur mehr schwache und sehr schwache Lesende am Ende der Grundschulzeit, sondern wir haben auch weniger gute und sehr gute Lesende.“ 

Für manche Schülergruppen seien die Auswirkungen jedoch besonders stark: zum einen Kinder, die beispielsweise keinen Schreibtisch oder keine Internetverbindung zu Hause hätten; und zum anderen Kinder mit Migrationshintergrund.

Ein Grund sei, dass es durch Schulschließungen, Distanzunterricht, Wechselunterricht weniger Leseunterricht gegeben habe. „Und dann haben unsere Grundschulkinder mit den Herausforderungen in der Zeit sicher auch ein bisschen mehr zu kämpfen gehabt als vielleicht ältere Schülerinnen und Schüler.“

Mit digitalen Medien zu lernen, sei Kindern in der Grundschule ja weniger vertraut. „Und Grundschülerinnen und Grundschüler sind weniger geübt darin, selbstständig zu lernen.“

Was sagt die Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger?

„Viertklässler haben durch die Schulschließungen ein halbes Jahr bei der Lesekompetenz verloren. Das ist schlimm. Präsenzunterricht ist die beste und gerechteste Form der Bildung, das ist jetzt klar. Schüler müssen in der Schule sein, damit sie wirklich lernen. Zu Beginn der Pandemie wurden die massiven Auswirkungen von Schulschließungen nicht gesehen. Jetzt gibt es Studien, die belegen, was das für massive psychische, soziale und körperliche Folgen hat. Wir müssen die Schulen künftig offenhalten, das muss unser Ziel bleiben“.

Kommentar

Es ist erschreckend, wenn über 20 % aller Viertklässler noch nie ein Buch gelesen haben, dass  es nicht mehr selbstverständlich ist, dass Eltern oder Großeltern den Kindern regelmäßig vorlesen und somit die Lesekompetenz, die ja für den weiteren Bildungsweg essentiell ist, stärken. Es gibt die kostenlosen Lesestartsets 1 und 2 in den pädiatrischen Praxen und das Lesestartset 3 kostenlos in teilnehmenden Bibliotheken, die überwiegend in ihrem Gebrauch in den Kinder- und Jugendarztpraxen den Eltern demonstriert werden. Außerdem bieten die meisten Bibliotheken ihre Kinderbücher kostenlos an. Am Geld kann es also nicht liegen. Es fehlt in den Kindertageseinrichtungen sowohl quantitativ und wie qualitativ an ausreichendem Personal, welches sich Zeit nimmt, z.B. aus Bilderbüchern kleine Geschichten vorzulesen und sie mit den Kindern nachzuarbeiten. Gerade für Kinder aus bildungsfernen Familien ist dies eine essentielle wichtige kognitive und sprachliche Entwicklungsstimulation. Aber auch bei bildungsnäheren Familien fehlt es vielfach an Zeit, häufig auch der Einsicht, wie wichtig Bilderbücher und das regelmäßige Lesen und Vorlesen für den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder sind. Hier muss vielmehr z.B. über Angebote der Frühen Hilfen dringend niedrigschwellig die Kompetenz der Familien gestärkt werden. 

Weitere Hinweise:
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2022/SWK-2022-Gutachten_Grundschule_Zusammenfassung.pdf  
https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/lesekompetenz-von-viertklaesslern-in-der-coronapandemie-gesunken

Zusammenstellung und Kommentierung:
Dr. Wolfram Hartmann, Kinder- und Jugendarzt i.R., 57223 Kreuztal

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