Corona-Kita-Studie: Frühkindlicher Bildungsanspruch blieb auf der Strecke

von Ulrich Fegeler

Teil I:

Frühkindlicher Bildungsanspruch blieb auf der Strecke

Die Corona-KiTa-Studie wurde von Mitte 2020 bis Ende 2022 gemeinsam vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) und dem Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert. Zentrale Forschungsfragen betrafen zum einen die besonderen organisatorischen, pädagogischen und hygienischen Herausforderungen, die Kindertageseinrichtungen und Tagespflegestellen (KiTas) während der Pandemie bewältigen mussten, sowie die praktische Umsetzung von Eindämmungsmaßnahmen in KiTas. Zum anderen wurde die Rolle von KiTa-Kindern im Pandemiegeschehen untersucht. Dazu gehörte die Analyse von Erkrankungshäufigkeiten und -risiken für alle Beteiligten im KiTa-Bereich beziehungsweise in den entsprechenden Altersgruppen sowie die Untersuchung von SARS-CoV-2-Ausbrüchen in Kindertageseinrichtungen.

In der zweiten Projektphase, die sich über das Jahr 2022 erstreckte, ging es zusätzlich darum, Unterstützungsbedarfe von Familien und Kindertageseinrichtungen und die mittelfristigen Folgen der Pandemie (z.B. Entwicklungsschwierigkeiten bei Kindern, Post-COVID-Symptome) zu untersuchen.

Fazit

Infektverlauf, Infektiosität

Kita-Kinder hatten seltener schwere Krankheitsverläufe, oft sogar keine Symptome und wenn, dann nicht mehr als Kinder, die durch andere Viren infiziert wurden.
Die Rolle von Kindern im Kita-Alter kann sich im Infektionsgeschehen mit dem Auftreten neuer Virusvarianten ändern. So waren zu Beginn der Pandemie vorwiegend Erwachsene (15+ Jahre) involviert, während in der Delta- und Omikron-Phase in der Mehrheit Kita-Kinder (0-5 Jahre) in Kita-Ausbrüchen betroffen waren.
Die Inzidenz blieb durchgängig unterhalb derjenigen der älteren Kinder und Jugendlichen, allerdings nahm die Häufigkeit und Dynamik von SARS-CoV-2-Infektionen auch bei Kindern von Variante zu Variante zu.
Infektionsschutzmaßnahmen waren wirkungsvoll, standen aber teilweise im Gegensatz zu pädagogischen Interessen

Soziale Folgen

Eltern berichten allgemein über eine starke Beeinträchtigung des Wohlbefindens ihrer Kinder während der Pandemie. Die Kitaleitungen stellten aber vor allem gestiegene Förderbedarfe bei sozial benachteiligten Kindern fest.  Erschwerend kommt hinzu, dass Einrichtungen mit vielen Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien stärker von der Pandemie betroffen sind. Einrichtungen mit einem hohen Anteil herkunftsbedingt benachteiligter (und damit besonders unterstützungsbedürftiger) Kinder wiesen ein erhöhtes Risiko für Infektionsfälle in der Einrichtung auf und wurden häufiger geschlossen. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, da Kitas für Kinder aus Familien aus dem unteren sozioökonomischen Bereich (Bildungsfern und einkommensschwach) die einzige Möglichkeit darstellen, außerfamiliär die notwendigen Entwicklungsanregungen zu bekommen, um ihre angeborenen Entwicklungspotenziale zu entfalten. Sozioökonomisch schwache Familien gelten als anregungsarm.  Vermehrte Kita-Schließungen bedeuten für die betroffenen Kinder eine erhebliche Schwächung ihres frühkindlichen Bildungsanspruches.
Das Deutsche Kinderbulletin fordert, dass insbesondere für Kitas mit einem hohen Anteil von Kindern aus Familien des unteren SES-Bereiches in einem künftigen Pandemiegeschehen frühzeitig ausreichende räumliche und personelle Möglichkeiten geschaffen werden, den Kitabesuch weiter zu ermöglichen. 
 

Teil II:

Hoher Förderbedarf bei sozial benachteiligten Kindern

Auszüge aus den Studienergebnissen (Quelle: https://corona-kita-studie.de/)

  1. Eltern berichten starke Beeinträchtigungen des Wohlbefindens ihrer Kinder während der Pandemie.
    Die in der Corona-KiTa-Studie befragten Eltern schätzten das Wohlbefinden ihrer Kinder geringer ein, falls diese aufgrund der Schließungsphasen in der zweiten und dritten Pandemiewelle ihre gewohnte Kindertagesbetreuung nicht nutzen konnten. Vom KiTa-Ausfällen betroffene Eltern berichteten auch selbst ein erhöhtes Stresserleben – insbesondere alleinerziehende Eltern oder in Zwei-Elternfamilien dann, wenn beide Elternteile erwerbstätig waren.
  2. Kita-Leitungen äußerten Spannungen mit Eltern und Schwierigkeiten bei der Umsetzung von pandemiebedingten Aufgaben, die zu zunehmenden Belastungen führten.
    Die Leitungsbefragung der Corona-KiTa-Studie machte deutlich, dass sich der organisatorische und pädagogische Kita-Alltag durch die wiederkehrende Einführung und Aufhebung von Schutzmaßnamen wie z.B. Maskenpflicht, Betretungsverbote für Eltern oder regelmäßige Testungen von Kindern und Beschäftigten zwischen Herbst 2020 und Frühjahr 2022 mehrfach grundlegend verändert hat.
  3. Die Leitungsbefragung identifiziert gestiegene Förderbedarfe insbesondere bei benachteiligten Kindern.
    Im Frühjahr 2022 identifizierten 43 % der Leitungen gestiegene Förderbedarfe in der sprachlichen Entwicklung, 46 % in der motorischen Entwicklung und 58 % in der sozio-emotionalen Entwicklung ihrer betreuten Kinder. In Einrichtungen mit einem größeren Anteil an Kindern aus benachteiligten Verhältnissen war der Anteil höher. Etwa 40 bis 50 % der Leitungen gaben im Frühjahr 2022 an, zusätzliche Förderangebote im Bereich der sprachlichen Bildung, der Bewegungsförderung, der Förderung der sozio-emotionalen Entwicklung sowie der psychischen Gesundheit von Kindern geschaffen zu haben.
  4. Einrichtungen mit vielen Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien stärker von der Pandemie betroffen
    Infektionsfälle in den Einrichtungen führten zu weitreichenden reaktiven Einrichtungs- und Gruppenschließungen. Während der fünften Welle 2022 war zeitweise in über 18% aller teilnehmenden Einrichtungen mindestens eine Gruppe infektionsbedingt geschlossen. Im Verlauf der Pandemie wurde eine zunehmende Entkoppelung von Infektionsfällen und Schließungen beobachtet, welche auf eine sich verändernde Praxis der Quarantäne- oder Schließungsanweisungen hinweist. Infektionsfälle und damit auch Schließungen waren sozial stratifiziert: Einrichtungen mit einem hohen Anteil herkunftsbedingt benachteiligter (und damit besonders unterstützungsbedürftiger) Kinder wiesen ein erhöhtes Risiko für Infektionsfälle in der Einrichtung auf und wurden häufiger geschlossen.
  5. Kindertagespflege weniger stark betroffen von Infektionsfällen und Schließungen Kindertagespflegestellen waren deutlich weniger von Infektions- und Verdachtsfällen betroffen und mussten seltener schließen. Über den Pandemieverlauf war ihre Auslastung insgesamt höher und schien weniger mit Regelungen zur Nutzung eines Betreuungsplatzes während der Phasen deutlicher Einschränkungen der Sozialkontakte zu korrespondieren. Ob dies an der besonders jungen Altersgruppe liegt, die üblicherweise von der Kindertagespflege betreut wird, an den im Vergleich mit Einrichtungen kleineren Kindergruppen oder anderen Faktoren, bleibt offen.
  6. Infektionsschutzmaßnahmen waren wirkungsvoll, standen aber teilweise im Gegensatz zu pädagogischen Interessen
    Kontaktreduzierenden Maßnahmen wie Gruppentrennung oder feste Personalzuweisung zur Gruppe haben sich in der zweiten und dritten COVID-19 Welle als effektiv erwiesen, aber ihre Bedeutung nahm mit der zunehmenden Verbreitung von Masken sowie einer zunehmenden Durchimpfung des Personals tendenziell ab. Der Schutzeffekt der Impfung vor Ansteckung hat zwar mit ansteigender Dominanz der Omikronvariante gegenüber der Deltavariante an Wirksamkeit eingebüßt, die Impfung bot aber weiterhin guten Schutz vor schweren Krankheitsverläufen. Das Tragen von Masken, insbesondere im Umgang mit Kindern, erwies sich in der vierten und fünften Welle als vorteilhaft. Es gilt allerdings genau abzuwägen, ob die epidemiologischen Schutzeffekte der Gesichtsmasken mögliche Erschwernisse im pädagogischen Alltag aufwiegen; insbesondere müssen dabei in Betracht gezogen werden die Folgen der vorherrschenden Virusvariante und die (spezifische) Durchimpfungsbzw. Boosterrate beim Personal.
  7. Die Rolle von Kindern im Kita-Alter kann sich im Infektionsgeschehen mit dem Auftreten neuer Virusvarianten ändern
    · Der Verlauf der gemeldeten Infektionsfälle zeigte, dass Kinder immer dem Geschehen eher folgten als diesem vorausgingen (wie dies bei anderen Atemwegserkrankungen der Fall ist). Die Inzidenz blieb durchgängig unterhalb derjenigen der älteren Kinder und Jugendlichen, allerdings nahm die Häufigkeit und Dynamik von SARS-CoV-2-Infektionen auch bei Kindern von Variante zu Variante zu.
    · Daten zu SARS-CoV-2-Ausbrüchen in Kitas zeigen, dass bei einem allgemein hohen Infektionsgeschehen in der Bevölkerung es auch vermehrt zu Ausbrüchen in Kitas kommt, in denen sowohl Kinder als auch Beschäftigte betroffen sind.
    · Zu Beginn der Pandemie waren vorwiegend Erwachsene (15+ Jahre) involviert, während in der Delta- und Omikron-Phase in der Mehrheit Kita-Kinder (0-5 Jahre) in Kita-Ausbrüchen betroffen waren. Zu Beginn der Pandemie machten Kita-Kinder ca. 38% an allen KitaAusbruchsfällen aus, zwischenzeitlich stieg ihr Anteil auf etwa 62% an (Beginn 2022), zuletzt war ihr Anteil wieder rückläufig.
  8. Kinder hatten selten schwere Krankheitsverläufe
    · Zwar stieg die Inzidenz von stationär aufgenommenen Kindern mit COVID-19 im Pandemieverlauf an, jedoch blieb der Anteil stationär behandelter Kinder im Vergleich zu älteren Altersgruppen auf einem niedrigen Niveau (Alpha/Delta/BA.1/BA.2: etwa 2-3%).
    · Die Zahl der mit einer SARS-CoV-2-Infektion verstorbenen Kinder war im gesamten Pandemieverlauf vergleichsweise klein (0,003% bzw. 3 von 100.000 Kindern) und blieb unterhalb der Werte aller Altersgruppen über 20 Jahren.
  9. Infizierte Kita-Kinder haben oft keine Symptome oder erkranken mild und haben kaum mehr Symptome als nicht mit SARS-CoV-2 infizierte Kita-Kinder
    · Kinder im Kita-Alter haben meist wenige Symptome bzw. asymptomatische Verläufe einer akuten SARS-CoV-2-Infektion. Die Symptome ähneln denjenigen von nicht-infizierten Kindern aus denselben Kita-Gruppen: 64% der Kita-Kinder mit SARS-CoV-2-Infektion hatten mindestens ein Symptom, bei den nicht infizierten Kindern waren es 40%.
    · Schnupfen war das häufigste Symptom. Schwere Beschwerden, wie z. B. Atemnot, wurden nur sehr selten angegeben. Diese Beobachtungen beziehen sich auf den SARS-CoV-2-Wildtyp und die Alpha-Variante.
    · In der Nachbefragung 7 bis 12 Monate nach den Ausbruchsuntersuchungen hatten KitaKinder, die zuvor eine Corona-Infektion hatten (n=31), nicht häufiger Langzeit-Beschwerden als Kinder ohne Corona-Infektion (n=158) aus denselben Kitas (26% versus 38%). Aber der Befund muss in größeren Studien weiter untersucht werden.
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