Der Beitrag ist eine Zusammenfassung eines Artikels (im Druck) in der Monatsschrift für Kinderheilkunde https://doi.org/10.1007/s00112-022-01617-2
Dass Kinder aus anregungsarmen, meist bildungsfernen und einkommensschwachen Familien (Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status, SES) im Vergleich zu Kindern aus Familien mit höherem SES überproportional häufig Beeinträchtigungen der sprachlichen, kognitiven und motorischen Entwicklung und mehr Auffälligkeiten im sozialen Verhalten aufweisen, ist seit Jahren ohne Veränderungstendenz aus den Schuleingangsuntersuchungen abzulesen. Und dass dadurch ihr schulischer und weiterer Ausbildungsweg gefährdet ist und etwa 20% bis 25% der betroffenen Kinder keinen Hauptschulabschluss erhalten werden, ist nach wie vor eine bittere Tatsache. Eine mögliche Hilfe für solcherart betroffene Kinder könnte in der frühen institutionalisierten außerfamiliären Entwicklungspädagogik in Verbindung mit Hilfen für die Eltern bestehen, da die Hauptursache für diese Entwicklungsstörung in einer mangelhaften frühkindlichen Entwicklungsanregung der angeborenen kindlichen Grundfähigkeiten besteht. Wir sprechen im Unterschied zu den körperlich bedingten „somatischen“ Entwicklungsstörungen hier von gesellschaftlichen, im Wesentlichen familiär bedingten „soziogenen“ Entwicklungsstörungen. Im Kern handelt es sich eigentlich nicht um Entwicklungsstörungen, sondern um die Nicht- bzw. Teil-Entfaltung der angeborenen Entwicklungspotenziale, die die betroffenen Kinder nachhaltig beeinflusst. Sie führt u.a. zu signifikanten Intelligenzunterschieden zu gleich-begabten Kindern führt, die optimal entwicklungsangeregt wurden.
Da auf diesem Hintergrund das Erkennen der Notwendigkeit einer frühkindlichen Entwicklungsanregung von größter und nachhaltiger Bedeutung der Kinder ist, spielen vornehmlich Kinder- und JugendärztInnen (KJÄ) der pädiatrischen Grundversorgung für die Prävention von soziogenen Entwicklungsstörungen eine große Rolle. Sie können allein schon aufgrund der regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen die Gefahr einer unerwünschten Entwicklungsstörung wie auch die bereits eingetretene Auffälligkeit früh erkennen und an geeignete pädagogische Fördereinrichtungen weiterleiten.
In einer repräsentativen Befragung von 350 Kinder- und Jugendärzt*innen (KJÄ) im Jahr 2021wurde der Frage nachgegangen, wie in der grundversorgenden pädiatrischen Praxis mit dem Problem der soziogenen Entwicklungsstörungen umgegangen wird (Prävention und Management). Der Anteil mutmaßlich betroffener Familien wird im Median bis 20% geschätzt. Hinweise für eine im Hinblick auf die frühkindliche Entwicklung erhöhte primärpräventive Wachsamkeit geben vor allem das wenig liebevolle/responsive Verhalten der Eltern/Bezugspersonen, schwierige Lebensumstände (z.B. Teenagermütter, psychische Erkrankungen, Substanzmittelmissbrauch), erkennbare Zeichen der äußeren Vernachlässigung oder das Vorhandensein bereits mehrerer entwicklungsauffälliger Kinder in der Familie, aber auch Bildungsferne und schwierige ökonomische Lebensumstände. Erfragt wird zudem die „Anregungssituation“ des Kindes im Alltag der Familie (Krippenbesuch, Bilderbuchgebrauch, Medienkonsum ohne elterliche Anwesenheit, andere Bezugspersonen u.a.). Wird ein Gefährdungspotenzial für die frühkindliche Entwicklung für wahrscheinlich gehalten, werden für das Kind hauptsächlich pädagogisch orientierte Frühförderstellen oder für die Eltern das Aufgreifen von Angeboten der Frühen Hilfen empfohlen. Recht früh wird aber bereits auch ein medizinisch-therapeutisch orientiertes SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum) überwiesen.
Das Verhältnis von erkennbaren somatischen zu erkennbaren soziogenen Störungen wird im Median auf 20 zu 80 Prozent geschätzt. Soziogene Entwicklungsbeeinträchtigung erkennen die KJÄ vornehmlich an einer gestörten Sprach/Sprechentwicklung bei, auffälligem Verhalten und einer gestörten sozial-emotionalen Kompetenz. Bei Kindern bis 3 Jahren werden deshalb zu ihrer Abhilfe folgerichtig frühpädagogische Fördermaßnahmen empfohlen, während bei Kindern über drei Jahre anstelle der Pädagogik überraschend die medizinische Therapie (Heilmittelverordnungen) im Vordergrund steht.
Als Ursachen für dies Verordnungsverhaltens werden der Mangel an geeigneten frühpädagogischen Einrichtungen (z.B. U3-Kitas), aber auch der eintrainierte „therapeutische Reflex“ der KJÄ diskutiert, wonach für eine erkannte Krankheit (psychosoziale Störungsbilder werden im ICD-10, einem Katalog der vorhandenen Erkrankungen, geführt) eine „Medizin“ – dazu zählen Heilmittel wie Logopädie oder Ergotherapie – verordnet wird. Trotz dieses „Verordnungsverhaltens“ bei Kindern > 3 Jahre bewerten KJÄ aber frühpädagogische Institutionen als wichtiger im Vergleich zu medizinischen Maßnahmen, um Kinder mit soziogenen Entwicklungsbeeinträchtigungen hinreichend auf schulisches Lernen vorzubereiten.
Folgerungen und Forderungen
Kinder- und Jugendärzt*innen in der pädiatrischen Grundversorgung sind sich sehr wohl darüber im Klaren, dass soziogene Entwicklungsstörungen früh erkannt werden müssen und auch früh einer entwicklungsanregenden Förderpädagogik zugeführt werden sollten. Eine solche „Erkennung“ kann in der pädiatrischen Grundversorgung, aber natürlich auch in anderen Einrichtungen wie Kita oder Familienzentren erfolgen.
Dazu bedarf es aber bundesweit vor allem in den Ballungszentren einer ausreichenden Zahl frühpädagogischer Einrichtungen, die ohne große bürokratische Hürden von den Eltern erreicht werden können. Gerade Eltern/Familien des unteren SES-Bereiches haben ein Problem mit der Aktivierung und Inanspruchnahme von außerfamiliären Hilfe- und Unterstützungssystemen (mangelnde Steuerungskompetenz).
Wichtig wäre in diesem Zusammenhang eine einfach zu adressierende, am besten beim Öffentlichen Gesundheitsdienst (Kinder- und Jugendgesundheitsdienst) verankerte Struktur, die z.B. von den KJÄ einfach erreichbar (Telefon) wäre, betroffene Familien in Absprache mit ihnen aufsucht, über Fördermöglichkeiten des Kindes im Sozialraum informiert, evtl. Kinder dorthin vermittelt, evtl. Termine zwischen Frühen Hilfen und Eltern organisiert und evtl. die Eltern auch zu Terminen begleitet („Sozialraumlots*in"). Darüber hinaus könnten sie z.B. nachfragen, ob Angebote der Frühen Hilfen angenommen wurden oder wenn nein, warum nicht.
Es wäre außerordentlich hilfreich, wenn sich die großen kinder- und jugendgesundheitlichen Verbände für die Erreichung dieser Ziele stärker und effektiver einsetzen würden. Die betroffenen Kinder haben keine Interessensvertretung außer den Professionen, die sich tagtäglich mit ihren Problemen beschäftigen. Neben Erzieher*innen spielen Kinder- und Jugendärzt*innen hierbei eine wesentliche Rolle. In den USA z.B. haben Kinder- und Jugendärzt*innen sich als eine ihrer Hauptaufgaben eine solche „Advocacy“ verordnet.