IQB-Bildungstrend 2021: sozial benachteiligte Kinder werden weiter abgehängt

VON WOLFRAM HARTMANN

Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich

Soziale Disparitäten Sozioökonomischer Status

Die Kopplung zwischen den von Viertklässler:innen erreichten Kompetenzen und dem sozioökonomischen Status ihrer Familien (niedriges Einkommen bzw. Transferleistungen und niedriger Bildungshintergrund), ist in allen Kompetenzbereichen für Deutschland insgesamt und in allen Ländern substanziell. Wie bereits in den Jahren 2011 und 2016 erreichen Schüler:innen aus Familien mit einem höheren sozioökonomischen Status im Durchschnitt höhere Kompetenzwerte. Die mit dem sozioökonomischen Status verbundenen Disparitäten sind im Jahr 2021 stärker ausgeprägt als in allen früheren Erhebungen zum Erreichen der Bildungsstandards im Primarbereich. Dabei haben sich die sozialen Disparitäten vor allem in den letzten fünf Jahren verstärkt. So sind die sozialen Gradienten in Deutschland insgesamt zwischen 2016 und 2021 sowie zwischen 2011 und 2021 in allen Kompetenzbereichen signifikant angestiegen, während die Veränderungen zwischen 2011 und 2016 nur im Zuhören und im Fach Mathematik (Globalskala) signifikant waren. Auf Ebene der Länder ist der Anstieg der sozialen Gradienten zwischen 2016 und 2021 bzw. zwischen 2011 und 2021 ebenfalls häufiger signifikant als zwischen 2011 und 2016.

Trends in den erreichten Kompetenzen von Kindern aus sozial weniger privilegierten und aus sozial privilegierteren Familien

Sowohl in Bezug auf den sozioökonomischen Status als auch das sog. kulturelle Kapital der Familien zeigt sich, dass die Kompetenzrückgänge bei Viertklässler:innen aus sozial weniger privilegierten Familien in Deutschland insgesamt deutlich stärker ausgeprägt sind als bei Viertklässler:innen aus sozial privilegierteren Familien. Auf Länderebene lassen sich für den Zeitraum zwischen 2016 und 2021 im Wesentlichen zwei verschiedene Befundmuster unterscheiden: 

  1. (a) Alle Kinder sind unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund gleichermaßen von Kompetenzeinbußen betroffen und 
  2. (b) Kinder aus sozial weniger privilegierten Familien sind von signifikanten Kompetenzeinbußen betroffen, während die Kompetenzen von Kindern aus sozial privilegierteren Familien weitgehend unverändert geblieben sind.

Zuwanderungsbezogene Disparitäten in den erreichten Kompetenzen

Unabhängig vom Zuwanderungshintergrund hat sich das von Viertklässler:innen erreichte Kompetenzniveau seit 2016 bzw. 2011 in allen untersuchten Bereichen signifikant verringert. Da die Kompetenzeinbußen für Kinder mit Zuwanderungshintergrund in fast allen Bereichen stärker ausfallen als für Kinder ohne Zuwanderungshintergrund, ist bei einem insgesamt sinkenden Kompetenzniveau ein deutlicher Schereneffekt und eine Zunahme zuwanderungsbezogener Disparitäten zu beobachten. Am stärksten fallen die Kompetenzrückstände im Jahr 2021 und die negativen Entwicklungen im Zuhören aus. Hier beträgt die Punktdifferenz im Jahr 2021 auf der Berichtsmetrik 146 Punkte (erste Generation) bzw. 90 Punkte (zweite Generation) im Vergleich zu Kindern ohne Zuwanderungshintergrund. In der Orthografie fallen die Disparitäten mit 76 Punkten (erste Generation) bzw. 31 Punkten (zweite Generation) am geringsten aus. Bezogen auf den anzunehmenden Lernzuwachs variieren die Lernrückstände von Kindern der ersten Generation somit etwa zwischen einem dreiviertel Schuljahr und mehr als zwei Schuljahren und für Kinder der zweiten Generation ungefähr zwischen einem drittel Schuljahr und eineinhalb Schuljahren. Kinder der ersten Generation weisen durchgängig die stärksten Kompetenzrückstände und die ungünstigsten Entwicklungen in allen Bereichen auf, wobei dieser Trend bereits seit dem Jahr 2011 zu beobachten ist. Diese Entwicklung ist besorgniserregend und nur teilweise auf die besonders schwachen Kompetenzen von fluchtbedingt zugewanderten Kindern zurückzuführen. Insbesondere im Lesen und im Zuhören haben sich die Disparitäten auch ohne geflüchtete Schüler:innen erheblich verstärkt. Für Kinder der zweiten Generation sind hingegen erst seit dem Jahr 2016 negative Trends im Lesen und Zuhören zu beobachten. Auch in den meisten Ländern zeigt sich vor allem in den sprachlichen Kompetenzbereichen eine signifikante Zunahme der Disparitäten für Kinder mit zwei im Ausland geborenen Elternteilen (erste und zweite Generation). Am stärksten sind die negativen Veränderungen auch innerhalb der Länder im Zuhören ausgeprägt. Seit dem Jahr 2016 sind in diesem Kompetenzbereich in fast allen Ländern (außer Bremen und Rheinland-Pfalz) signifikant negative Veränderungen zu beobachten. Im Vergleich der Länder variiert die Stärke dieser ungünstigen Entwicklung zwischen_28 Punkten in Hessen und 122 Punkten in Brandenburg allerdings erheblich.

Zusammenhänge zuwanderungsbezogener Disparitäten mit familiären Hintergrundmerkmalen und Lernbedingungen 

Bundesweit lassen sich die zuwanderungsbezogenen Disparitäten im Jahr 2021 teilweise auf andere familiäre Hintergrundmerkmale (geringerer sozioökonomischer Status und weniger kulturelles Kapital sowie nicht-deutsche Familiensprache) und ungünstigere Lernbedingungen von Kindern aus zugewanderten Familien während der Coronavirus-Pandemie zurückführen. Dabei bestätigt sich erneut die Rolle der in der Familie gesprochenen Sprache: Kinder aus zugewanderten Familien erreichen auch unter Kontrolle sozialer Hintergrundmerkmale und pandemiebedingter Lernbedingungen überwiegend deutlich geringere Kompetenzen als Kinder ohne Zuwanderungshintergrund, wenn sie in ihren Familien nur manchmal oder nie Deutsch sprechen. Dies unterstreicht die Bedeutung einer sprachlichen Förderung, um alle Schüler:innen in die Lage zu versetzen, die verfügbaren Bildungsangebote zu nutzen. Die Bedeutsamkeit sprachlicher Förderung ist insgesamt weiter gestiegen, da der Anteil aller Viertklässler:innen (unabhängig vom Zuwanderungshintergrund), die in ihrer Familie immer Deutsch sprechen, deutschlandweit im Jahr 2021 nur noch bei knapp 62 Prozent liegt und in den letzten fünf Jahren signifikant um 11 Prozentpunkte bzw. in den letzten zehn Jahren um 22 Prozentpunkte zurückgegangen ist. In den Stadtstaaten Berlin (51 %) und Bremen (44 %) ist dieser Anteil im Jahr 2021 besonders gering.

Zusammenhänge zwischen Lernbedingungen und erreichten Kompetenzen 

Die im Jahr 2021 von den Vierklässler:innen erreichten Kompetenzen hängen unter Berücksichtigung des familiären Hintergrunds teilweise mit den Lernbedingungen der Schüler:innen zusammen, insbesondere mit der Ausstattung zu Hause. Standen räumliche und technische Ressourcen zur Verfügung, die für das Lernen während der pandemiebedingten Einschränkungen des Schulbetriebs besonders relevant gewesen sein dürften, fielen die erreichten Kompetenzen im Mittel deutlich höher aus als bei Kindern, die nicht über diese Ausstattung verfügten. Ferner geht ein höherer Anteil an Präsenzunterricht, eine gute Unterstützung beim Lernen im Fernunterricht durch die Eltern sowie ein nach Einschätzung der Lehrkräfte besser funktionieren_der Fernunterricht mit höheren Kompetenzwerten der Viertklässler:innen einher. Auch wenn die Ergebnisse nicht kausal interpretiert werden können, deuten die Befundmuster darauf hin, dass sich die Pandemiesituation auf den Kompetenzerwerb der Viertklässler:innen ausgewirkt haben dürfte.

Fazit 

  • Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends liefern ein besorgniserregendes Bild. Die negativen Trends sind erheblich und der Anteil der Viertklässler:innen, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen, ist zu hoch. Im Jahr 2021 liegt dieser Anteil in Deutschland insgesamt zwischen gut 18 Prozent (Zuhören) und etwa 30 Prozent (Orthografie), wobei die Anteile in einzelnen Ländern noch deutlich höher sind. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind. Bei Mindeststandards handelt es sich um Anforderungen, die von allen Schüler:innen erreicht werden sollten – hierfür haben alle Akteursgruppen im Bildungssystem gemeinsam Sorge zu tragen. 
  • Auch wenn aufgrund der Anlage des Bildungsmonitorings nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann, worauf die ausgesprochen ungünstigen Entwicklungen zurückzuführen sind, spricht einiges da_für, dass die pandemiebedingten Einschränkungen des Schulbetriebs eine Rolle gespielt haben. Zum einen sind im Zeitraum 2016–2021 in allen Kompetenzbereichen deutlich negative Trends zu verzeichnen und zum anderen sind fast alle Länder von negativen Trends betroffen. Zudem stimmen die Ergebnisse mit Befunden aus internationalen Studien überein, die Effekte der pandemiebedingten Einschränkungen identifiziert haben. Gleichzeitig zeichneten sich in Deutschland bereits zwischen 2011 und 2016 ungünstige Entwicklungen ab. 
  • Bei den negativen Trends, die in Deutschland im Zeitraum 2016–2021 aufgetreten sind, könnte es sich somit teilweise um eine Fortsetzung dieser Entwicklungen handeln, die auch ohne die Pandemie aufgetreten wäre. Besonders ungünstig fallen die Ergebnisse für Kinder mit Zuwanderungshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien aus. Sie erreichen im Jahr 2021 in allen untersuchten Kompetenzbereichen und in den meisten Ländern im Durchschnitt nicht nur ein niedrigeres Kompetenzniveau, sondern sind von den negativen Trends überwiegend auch deutlich stärker betroffen als ihre Mitschüler:innen. Dadurch haben sich die zuwanderungsbezogenen und sozialen Disparitäten in allen Kompetenzbereichen signifikant verstärkt. 
  • Allerdings sind auch bei Kindern ohne Zuwanderungshintergrund und bei Kindern aus sozial besser gestellten Familien Kompetenzeinbußen zu verzeichnen, und weder die Länderunterschiede noch die negativen Trends in den erreichten Kompetenzen lassen sich vollständig auf die Zusammensetzung der Schüler:innenschaft bzw. deren Veränderung in den Ländern zurückführen. 
  • Angesichts des insgesamt sinkenden Kompetenzniveaus der Viertklässler:innen bei gleichzeitig zunehmenden Disparitäten müssen gezielte Anstrengungen unternommen werden, um die Bildungsqualität in der Breite zu erhöhen. Dabei muss ein besonderes Augenmerk auf die Sicherung der Mindeststandards und auf diejenigen Schüler:innen gelegt werden, die aufgrund von ungünstigeren Lernausgangslagen und Lernbedingungen einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, abgehängt zu werden. 
  • Eine besondere Herausforderung besteht weiterhin im Bereich der Sprachförderung. Diese muss systematisch weiterentwickelt werden, um sicherzustellen, dass auch Kinder, die mit geringen Deutschkenntnissen ins Bildungssystem kommen, dieses erfolgreich durchlaufen können. 
  • Bemerkenswert ist, dass – entgegen der allgemein ungünstigen Entwicklung – in Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz das erreichte Kompetenzniveau zwischen den Jahren 2016 und 2021 weitgehend gehalten werden konnte, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Hamburg gehört im Vergleich der Länder nicht mehr – wie noch im Jahr 2011 – zu den Schlusslichtern und hat sich von den Ergebnissen der anderen beiden Stadtstaaten Berlin und Bremen inzwischen deutlich abgesetzt. Ob dies etwas mit der Strategie einer datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung zu tun hat, die das Land in mehr als 20 Jahren konsequent etabliert und weiterentwickelt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Es erscheint jedoch plausibel, dass in einem System, in dem die Entwicklung zentraler Rahmenbedingungen, Verläufe und Ergebnisse schulischer Bildungsprozesse auf den verschiedenen Akteursebenen kontinuierlich beobachtet wird, auf Veränderungen gezielter reagiert und bei sich abzeichnenden Problemlagen frühzeitiger interveniert werden kann. 

Forderungen

  • Um dafür Sorge zu tragen, dass sich die ungünstigen Entwicklungen nicht weiter verstärken, sondern nach Möglichkeit umkehren, werden kurzfristige Einzelmaßnahmen nicht ausreichen. Vielmehr sind evidenzbasierte Strategien der Qualitätsentwicklung von systematisch aufeinander abgestimmten Maßnahmen erforderlich, die langfristig angelegt sind und durch Monitoring und Evaluation begleitet werden. 
  • Damit die für einen erfolgreichen Übergang in die Sekundarstufe I grundlegenden Mindestanforderungen perspektivisch von allen Schüler:innen erreicht werden, erscheint es wichtig, die bundesweit geltenden Mindeststandards der KMK genauer auszuarbeiten und ihre Rolle als Grundlage der Qualitätsentwicklung in Schulen deutlich zu stärken. Ferner ist es zur Sicherung von Mindeststandards erforderlich, dass Kinder mit ungünstigeren Lernvoraussetzungen bereits im Elementarbereich gezielter gefördert werden als es bislang der Fall ist.

Zusammenstellung und redaktionelle Bearbeitung

Dr. Wolfram Hartmann

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