Adipositas bei Kindern aus prekären Familien – wir brauchen einen Neuanfang

von Raimund Schmid

Repräsentative Umfragen unter Eltern zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie gibt es immer wieder aufs Neue. Die jüngste forsa Umfrage hat aber besonders aufgerüttelt. Denn während der Corona-Krise haben Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in einem „noch nie zuvor gesehenen Ausmaß zugenommen“, stellt PD Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin an der Uniklinik Halle an der Saale, ernüchtert fest.

Besonders dramatisch: Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien haben doppelt so oft an Gewicht zugelegt wie solche aus einkommensstarken Familien (23 versus 12 Prozent). Übersetzt liest sich der besorgniserregende Befund so: Jedes vierte Kind, das aus ohnehin benachteiligten Familien stammt, wächst zudem mit ungesundem Übergewicht oder sogar mit einer ausgeprägten Adipositas auf.

Diese Erkenntnisse resultieren aus Ergebnissen einer repräsentativen forsa-Umfrage unter Eltern in Deutschland, die die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und das Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin beauftragt hatten. Für die im Sommer 2022 vorgestellten Studienergebnisse waren im Frühjahr insgesamt 1.004 Eltern mit Kindern im Alter von drei bis 17 Jahren befragt worden.

Die Ergebnisse sind niederschmetternd:

  • 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind dicker geworden, bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sind es sogar 32 Prozent,
  • 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen bewegen sich weniger als vor der Pandemie, bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sind es 57 Prozent.
  • 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben dagegen die Mediennutzung (TV, Computer, Spielkonsolen) gesteigert
  • Bei 33 Prozent der Kinder und Jugendlichen hat sich die körperlich-sportliche Fitness verschlechtert, bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sind es 48 Prozent.

Aus all diesen Daten resultiert immer wieder die gleiche Erkenntnis: Je ärmer und bildungsferner die Familien sind, desto stärker sind die Kinder von Übergewicht und seinen Folgen betroffen. 23 Prozent der Kinder aus Haushalten mit einem Budget von weniger als 3.000 Euro monatlich legten an Kilogrammen zu, vier Prozent davon deutlich. Bei einem Monatseinkommen von mehr als 4.500 Euro waren es lediglich zwölf Prozent. Die Krankheitslast ist somit auch hier sozial ungleich verteilt, was Corona nochmal erheblich verschärft hat.

Und jetzt droht schon die nächste Coronawelle im Winter2022/2023, in der viele Kinder und Jugendliche vermutlich wieder länger zu Hause „abhängen“ werden und so erneut Gefahr laufen, weiter an Gewicht zuzulegen.

Gerade Kinder und Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen geraten hier in einen kaum kontrollierbaren Teufelskreis aus Bewegungsarmut und hochkalorischer Ernährung, so dass sie besonders stark an Gewicht zulegen. Und niemanden scheint dies so richtig zu beunruhigen. Hinzu kommt: Gerade bei Kindern, die in bildungsfernen und sozial schwachen Familien leben, helfen Appelle allein nicht weiter Daher setzt man zumeist auf den medizinischen Reparaturbetrieb und schickt die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu einer teuren Reha. Dort nehmen die Kinder dann erst mal geringfügig ab, um jedoch danach, wenn sie wieder in ihr Familienmilieu zurückgekehrt sind –mitunter sogar überproportional wieder zuzunehmen. Aus dieser Spirale kommen die Kinder nicht mehr raus.

Weitaus besser wäre es, sich gar nicht erst in diesem Teufelskreis zu verfangen. Daher gilt: Prävention, aufsuchende Beratungsangebote, teilweise fachliche Begleitung von Familien über eine gewisse Zeit etwa mit Hilfe geschulter Kinderkrankenschwestern, Ernährungswissenschaftler oder community nurses. Ein anderer vielsprechender Ansatz kommt aus drei Hamburger Stadtteilen, in denen sozial benachteiligte Familien leben. Dort sollen Pädiater, die in diesen Stadtteilen tätig sind, mit besonders gut dotierten Zeitziffern ausgestattet werden, um diesen Familien – gerade auch sozialpädiatrisch und psychosozial – besser versorgen zu können.

Da hört man schon die Unkenrufe: Geht das überhaupt, das wird doch so richtig teuer. Stimmt! Noch deutlich teurer wird es aber, wenn wir alles beim Alten belassen. Dann müssen wir die Folgeerkrankungen des Übergewichts – also Bluthochdruck, Herz- Kreislauf- und Skelettschäden – aufwändig und teuer therapieren.

Also sollten wir nun endlich einmal einen Neuanfang wagen. Und umsteuern hin zu mehr Prävention und weniger Reparatur. Dazu brauchen wir Mut, neue Konzepte und Finanzmittel. Die Mittel aus dem Innovationsfonds wären hier für bundesweite Modellprojekte bestens angelegt.

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