Jedes dritte Kind bleibt sitzen

Aus der ARD-Reihe "Schulverlierer" mit einem Kommentar von Ulrich Fegeler

Jedes dritte Kind bleibt sitzen – an einer einzigen Grundschule.

Die ARD-Doku "Schulverlierer" zeigt, was hinter dem Bildungsfiasko steckt: Systemversagen, Politikversagen – und Kinder, die beim Start schon scheitern.

Diese Zahl markiert so etwas wie den jüngsten Tiefpunkt der deutschen Bildungspolitik: 39 Kinder der Gräfenauschule in Ludwigshafen mussten 2023 die erste Klasse wiederholen – ein Drittel des gesamten Jahrgangs. Rektorin Barbara Mächtle bewahrt dennoch die Ruhe. Die Zahl, sagt sie, habe sie nicht so wahnsinnig überrascht. Sie habe sich angekündigt.

Wenn einer von drei Schulanfängern das Klassenziel nicht erreicht, ist klar: Hier ist etwas grandios schiefgelaufen. 

Doch was? Ist es das Versagen einer einzelnen Schule? Oder das Symptom für einen echten Systemfehler? Ein ARD-Filmteam hat sich auf die Suche nach den Ursachen gemacht.

ARD-Doku sucht nach Gründen

Die Doku "Schulverlierer" (abrufbar in der ARD-Mediathek) macht schnell klar: Die Gräfenauschule ist nur eine von vielen. Andere Schulen wagen sich nun aus der Deckung, nennen weitere erschreckende Zahlen. Das gesamte Bildungssystem ist nicht mehr versetzungsfähig – Note mangelhaft.

Es liegt an dem, was die Kinder mitbringen. Oder besser gesagt: nicht mehr mitbringen. Etwa die Fähigkeit, einen Stift zu halten. Aufmerksam zuzuhören. Selbstständig Dinge aus dem Ranzen zu holen oder zurückzupacken. Bei einer Sache zu bleiben. Und: die Unterrichtssprache Deutsch zu verstehen.

Erstklässler hätten heute mehr Defizite als vor zehn Jahren, melden 87 Prozent der Lehrkräfte in einer Befragung der Gewerkschaften der Grundschulen. Ganz vorne dabei: Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme bei der Feinmotorik sowie Sprachdefizite. Um letztere auszugleichen, steht 80 Prozent der Grundschullehrer bestenfalls eine Wochenstunde zur Verfügung.

Ein bildungspolitisches Flickwerk – seit Jahrzehnten

Klassenlehrerin Eva-Maria Wenz bekommt vom Kultusministerium für ihre 22 Kinder eine Lehramtsstudentin an die Seite gestellt. Für sechs Wochen. Dann ist die Unterstützung wieder weg. Was bleibt? Nichts.

Die Erziehungswissenschaftlerin Havva Engin mahnt, derlei "Pflaster" würden schon längst nicht mehr ausreichen, man müsse "gründlich an die Wurzeln gehen". Doch damit täten sich Politiker schwer – auch weil die Schieflage nicht erst seit gestern existiert, sondern sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hat.

Inzwischen ist das deutsche Bildungssystem so marode, dass man es eigentlich nur noch abreißen und neu aufbauen kann. Doch dieser Herkulesaufgabe will sich niemand stellen. Geht’s nicht auch etwas kleiner?

Sind letztendlich die Eltern schuld?

So wie die Ampelkoalition mit ihrem Startchancen-Programm, das mit 20 Milliarden Euro größte Bildungspaket in der Geschichte Deutschlands. Das Geld soll in die Schulinfrastruktur fließen und zusätzliches Personal bringen.

Rektorin Barbara Mächtle findet: Mehr Geld ist schön, wird aber nicht viel verändern. Sie hätte sich gewünscht, dass man stattdessen an dem Punkt ansetzt, der tatsächlich Startpunkt in Sachen Bildung ist: beim Kindergarten.

Erziehungsexpertin Engin stimmt zu: "In Deutschland werden Bildungsbiografien im Kindergarten gemacht." In der Kita klagt man jedoch, dass der Personalschlüssel zu knapp sei, um auszugleichen, was im Elternhaus versäumt wird. Bleibt der Schwarze Peter also bei den Eltern hängen – und die Politik ist fein raus?

Das kleine Einmaleins der Schulreform

Die Doku "Schulverlierer" macht schlichtweg wütend. Die zahllosen Förderprogramme, mit denen sich die Kultusministerien in den letzten Jahrzehnten schmückten, waren teuer. Und wurden nach wenigen Jahren wieder einkassiert.

Ein Erfolg blieb aus – auch weil gar nicht feststeht, um welche Form des Erfolgs es geht. Was ein Kind am Ende der Kindergartenzeit können sollte, ist bis heute nicht verbindlich festgelegt. Dass es nichts bringt, einen Weg zu ebnen, solange das Ziel nicht definiert ist, zählt eigentlich zum kleinen Einmaleins der Transformation.

Immerhin: Es gibt Hoffnungsinseln. In Hamburg müssen inzwischen alle Kinder mit 4,5 Jahren zum Sprachtest. Wer dabei auffällt, muss bis zur Einschulung in die Sprachförderung. In dem Stadtstaat wiederholen deutlich weniger Kinder die erste Klasse als in anderen Bundesländern. Klingt nach einem Erfolgsmodell. Und gar nicht mal so kompliziert.

Lieber so tun, als würde man etwas tun

 In der Gräfenauschule hingegen mussten ein Jahr nach dem Skandal 37 Kinder die erste Klasse wiederholen. 2025 werden es wohl 35 Kinder sein. Rektorin Mächtle musste sich für diese Zahlen mehrfach beim Kultusministerium rechtfertigen, dem ARD-Filmteam wurde letztlich die Drehgenehmigung für die Schule entzogen – mit der Begründung, die Gräfenauschule solle erst einmal zur Ruhe kommen.

Einfach mal die Lage aussitzen und mit ein paar schicken Bildungspaketen Aktivität vortäuschen: Mit dieser Strategie segelt die Politik seit Jahrzehnten von Wahl zu Wahl. Dass hierzulande nicht nur mehr Erstklässler scheitern, sondern Deutschland mit 12,2 Prozent bereits die vierthöchste Schulabbrecher-Quote innerhalb der EU aufweist, ist das traurige Ergebnis dieser Politik des Wegschauens.

Kommentar

Was der erschütternde Bericht der ARD zeigt, ist für viele Grundschullehrer*innen seit Jahren eine traurige Realität. Immer mehr Kinder sind den intellektuellen, verhaltensbezogenen, sprachlichen und feinmotorischen Anforderungen allein schon der ersten Grundschulklasse nicht gewachsen. Dies ist ein komplexes Problem, was mit nicht ausreichender frühkindlicher Entwicklungsanregung, sozioökonomischem Status der Eltern und - in der Zahl wie auch der Qualität - nicht ausreichenden U3-Kitas zu tun hat. Das Problem hierbei liegt in der Regel auch nicht bei den Kindern, sondern in den Gegebenheiten ihres Aufwachsens. Und was diese Kinder in ihrem unglücklichen Schicksal verfangen bleiben lässt, ist, dass offenbar die Grundschule auch nicht in der Lage ist, das Bildunsgruder für diese Kinder herumzureißen. Zu wenig Lehrer*innen, Personalflickschusterei, zu wenig Assistenz für die Klehrer*innen, um die starken Bildungsunterschiede innerhalb der Klassen durch individuelle Förderungen auszugleichen. Vor allem aber die frühkindliche Entwicklungsanregung, konkret die Kita, genauer gesagt die U3-Kita muss viel mehr in den Fokus eines bildungspolitischen Neuansatzes rücken. Allein hier besteht die Chance, an den sozioökonomisch bedingten Anregungsdefiziten durch eine dauerhafte Entwicklungsstimulation anzusetzen und die betroffenen Kinder ihre angeborenen Entwicklungspotenziale entfalten zu lassen. Nur so wird eine Chancengleichheit hergestellt, die von der ersten Klasse an eine gelingend Bildungs- und später Ausbildungs- und Berufslaufbahn ermöglicht. Diese Gesellschaft hat bisher nichts gelernt aus der seit Jahrzehnten stagnierenden Zahl von ca. 50.000 Hauptschulabbrechern pro Jahr. Beschleicht einen da nicht der Verdacht, dass die politischen Entscheidungsträger kein großes Interesse an diesen Kindern haben?

Ulrich Fegeler

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